Glutnester
Abstand – das Haus beobachtet. Er hatte einfach draußen gewartet. War nur so dagesessen und hatte beobachtet. War ziemlich unruhig da drin gewesen. Später auch draußen. Zuerst kam die Frau mit dem Kind mit den kurzen Haaren aus dem Haus. Dann der Mann, der sofort den Stall ansteuerte und sich dabei die Arme kratzte, als litte er unter einem schrecklichen Ekzem. Danach Roland Gasteiger. Sein Vater. Er hatte gründlich recherchiert und den Plan, seine Eltern aufzusuchen, einige Monate in seinem Kopf präzisiert, bevor er nach Unterwössen gezogen war.
Als alle draußen waren, ist er ins Haus hinein. Das Gebrüll der Frau im Zimmer hat ihn empfangen. Auch hier Brüllen, Vorwürfe, schlechte Laune. Das kannte er viel zu gut. Die Frau wollte raus aus ihrem Zimmer. Er wusste, dass es sich um Luise Gasteiger handeln musste. Er hatte sie durch die Tür hindurch nach ihrem Namen gefragt und sie hatte ihm bestätigt, dass sie es war. Die Frau, die einstmals behauptet hatte, seine Mutter, Veronika Steffel, bekäme keine Kinder. Ein Grund, den Roland Gasteiger aufgriff und aufgrund dessen er seine spätere Mutter, Veronika, verließ und Luise heiratete. Er brauchte einen Nachfolger für den Hof. Das war üblich so. Kinder gehörten dazu.
Ein verrückter Schachzug des Schicksals, dass Roland und Luise später eine Tochter bekamen, Helga, und er, sein Sohn, Gerd Speckbacher, ihm verwehrt blieb. Schwachsinn des Schicksals.
Luise hatte ihn angefleht, sie aus dem Zimmer zu lassen. Sie sei zuckerkrank und brauche Kohlenhydrate, weil sie gerade ihre Medikamente eingenommen hatte.
Er stand in einer dunklen Ecke herum, als sie auf ihn einsprach und Roland plötzlich noch mal ins Haus zurückkam, den Schlüssel vom Boden aufhob und die Tür zu Luises Zimmer aufschloss. Er hat ihn nicht gesehen. Den Sohn, der ihm so nahegekommen war. Alles, was Roland Gasteiger tat, war, eine Umdrehung auszuführen. Der Schlüssel blieb stecken und Roland ging wieder hinaus. Kein Wort zu Luise. Alles war ganz schnell vor sich gegangen. Da stand er nun. Der Schlüssel lachte ihn an. Er ging zur Tür und spürte die Kälte des Schlüssels in seiner Hand. Er drehte ihn erneut um, diesmal für immer, zog ihn dann aus dem Zylinder und legte ihn auf den Küchentisch. Dann verließ er das Haus, zog sich die Handschuhe aus, die er lange vorher übergestreift hatte, stieg in seinen Wagen, den er weit genug entfernt geparkt hatte, und fuhr davon.
Er kannte die Geschichte aller Beteiligten. Luise war seit vielen Jahren zuckerkrank. Er wollte, dass sie in diesem Zimmer schmorte wie eine Gurke im Topf. Der Tod, meine Güte? Er hatte den Schlüssel auf den Küchentisch gelegt, weil er fand, das Schicksal müsse über Luise Gasteiger entscheiden. Das Schicksal hatte entschieden. So, wie es auch in seinem Fall stets entschieden hatte. Der Rest der Familie, Helga, ihr Mann, die Kinder, die interessierten ihn nicht.
Als Nächstes war das Treffen mit Veronika angestanden. Dieser Blick aus ihren seltsamen Augen, als er ihr endlich gegenüberstand und seinen Namen nannte. Langsam hatte er das Gerd, dann das Speckbacher aus dem Hut gezaubert und beobachtet, wie ihr Gesicht verfiel. Nach einem kurzen Gespräch waren die Schlaftabletten, danach die Betäubung mit Sevofluran dran. Es war alles ganz leicht gewesen. Er hatte ihr etwas zu trinken gegeben. Das Glas hatte er später mitgenommen. Genauso wie den Inhalator, den er für das Narkosegas gebraucht hatte. Er hat alles präzise recherchiert und penibel geplant. Er hasste seine Mutter so sehr und er liebte sie abgöttisch. Beides zugleich. Es ist das Gefühl, das er Frauen im Allgemeinen entgegenbringt. Abgrundtiefer Hass und alles zersetzende Liebe. Er liebt seine Gefühle und er hasst sie. Er wusste seit Langem, dass er seine Mutter bestrafen musste, wenn er sich besser fühlen wollte. Bestrafen für all die Jahre, in denen er gelitten hatte wie ein räudiger Köter. Die Jahre, die ihm eine normale Liebe für immer vergällt hatten.
Nach der Betäubung hatte er draußen gewartet. Auch diesmal hatte er das Schicksal bemüht. Und auch diesmal hatte es zugeschlagen. Veronika hatte sich erbrochen und war daran erstickt. Er hatte nur zugesehen. Nicht mehr und nicht weniger.
Speckbacher nimmt das Wichtigste mit nach draußen zu seinem Wagen. Er packt den Seesack, den Koffer und die Schachteln in den Kombi. Dann wirft er einen abschließenden Blick hinauf zu seiner Wohnung. Er weiß, dass er nie wieder zurückkommen,
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