Gnadenthal
ein bisschen verschnupft, aber das kannten sie ja und wussten damit umzugehen.
«Das Beste aus dreißig Jahren, habt ihr euch darüber schon Gedanken gemacht?», wollte Kai wissen.
Martin und Dagmar schoben beide eine Liste über den Tisch.
«Au weia, allein damit könnten wir ein komplettes Programm bestreiten. Na, wenigstens bei ein paar Sketchen seid ihr euch einig.» Kai knibbelte an seinem Daumennagel. «Was ist mit den Sachen, die wir über die RAF gemacht haben? Waren ja nicht gerade wenig.»
Es blieb einen Moment still.
«Zu schwiemelig …», sagte Dagmar schließlich.
Kai runzelte fragend die Stirn.
«Sie hat Recht», meinte Haferkamp. «Wir haben nie eindeutig Position bezogen. Wie denn auch damals?»
«Genau», stimmte Kai ihm zu. «Das meine ich. Diese Sketche sind ein echtes Zeitdokument.»
«Aber das versteht doch heute kein Mensch mehr», wehrte Dagmar heftig ab. «Wir würden uns damit in eine ziemlich komische Ecke stellen.»
«Wahrscheinlich hast du Recht.» Kai rieb sich die Augen. «Mir sind nur in letzter Zeit ein paar Sachen durch den Kopf gegangen. Die RAF-Leute haben immer vom ‹Körper als Waffe› gesprochen, nicht viel anders als die Attentäter vom 11. September, oder?» Er winkte ab, als Haferkamp etwas erwidern wollte. «Schon klar, Martin, aber Fakt ist, dass heute noch oder wieder eine Menge Leute rumlaufen, die sich sagen, Baader und seine Vasallen, das waren nicht einfach gewalttätige Desperados, da muss mehr dahinter gesteckt haben.»
«Gott ja», entgegnete Haferkamp, «genau wie wir damals. Dabei hatte die RAF für uns einfach nur den Finger in eine große Wunde gelegt: die Selbstunsicherheit der bundesdeutschen Nachkriegspolitik. Das haben wir damals gespürt, benennen konnten wir es nicht. Und genau aus dem Grund sollten wir uns von diesen Texten verabschieden.»
«Es sei denn, wir geben zu den Tickets gleich noch ein Heft mit Erläuterungen raus.» Dagmar gähnte. «Ich fürchte, ich bin bettreif. Ich seh schon alles doppelt.»
Kai Janicki schlug die Decke zurück und atmete ein paar Mal tief durch. Er schlief immer schlecht in Hotelzimmern, die trockene Heizungsluft, obwohl er das Fenster geöffnet hatte, war ihm zu warm.
Bis Viertel vor zwei hatten sie gearbeitet, er hatte sich sauwohl gefühlt. Er wusste, dass es eigentlich sein Gewissen war, das ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Er hatte sich amüsiert, die intellektuelle Herausforderung genossen, die Gesellschaft von Martin und Dagmar, sogar einzelne Rollen hatte er schon angespielt, und der Applaus war ihm runtergegangen wie Butter.
Und zu Hause war Bettina allein mit ihrem ganzen Elend. Morbus Crohn – seit jetzt mehr als vier Jahren. Urteil: lebenslänglich. Ein paar Monate war gläserne Ruhe gewesen, jetzt der neue Schub. Sie war wieder krankgeschrieben. Das Unverständnis des Chefs und der Unmut der Kollegen, die ihren Unterricht schon wieder mit übernehmen mussten, äußerten sich deutlich in ihrem Schweigen. Und Bettina igelte sich ein, traute sich nicht mehr aus dem Haus, aus Angst, nicht schnell genug zur Toilette zu finden.
Er war bei ihr, wann immer es ging, half, tröstete. An diesem Wochenende nicht.
Was hatte den neuen Schub ausgelöst? War es ihr Aus bei der ‹13› gewesen? Sie war nur eingesprungen damals, all die Jahre ‹Ersatzfrau› gewesen, und im Grunde hatte sie sich auf der Bühne nie so recht wohl gefühlt. Aber sie hatte trotzdem alles mitgemacht von Anfang bis Ende, die Diskussionen, die Proben, die Fetzereien, die Auftritte, die Eitelkeiten.
Doch im letzten Jahr, kurz bevor die Proben begannen, hatte sie ins Krankenhaus gemusst, und Frieder hatte von nichts auf gleich einen Ersatz aus dem Ärmel gezaubert: seine neue Gespielin, Patricia, halb so alt wie er, bildhübsch, ein Knaller, die geborene Schauspielerin, ein Naturtalent. Sie hatte eingeschlagen wie eine Bombe, das Publikum hatte ihr aus der Hand gefressen. Es hatte gar keine Debatte mehr darüber gegeben, dass sie auch in diesem Jahr dabei sein würde. Für Frieder war das selbstverständlich gewesen, und Bettina hatte es hingenommen, nicht ein Wort darüber verloren, er selbst auch nicht. Verdammter Frieder, verdammter Crohn, verdammtes Scheißleben.
Im Dunkeln tappte er zum Waschbecken und trank einen Schluck Wasser, lauwarm. Dann stellte er den Wecker neu. Um sechs würde der Kleine Bettina wecken. Er konnte sie um halb sieben anrufen und hören, wie es ihr ging.
Für zehn Uhr hatte Martin ein üppiges
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