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Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Titel: Goldener Reiter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Weins
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Goldener Reiter
    1
    Es riecht nach Zwiebel im Haus. Das heißt, ich bin nicht sicher, ob es wirklich nach Zwiebel riecht. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein. Ich weiß nicht, ob es so sehr nach Zwiebel riechen kann, bis hier oben herauf zu mir, ich meine, nach roher Zwiebel. Nach gebratener Zwiebel, ja, das weiß ich.
    Ich weiß, dass meine Mutter unten in der Küche steht. Sie schneidet Zwiebeln. Ich höre sie schneiden. Und ich habe den Geruch roher Zwiebel in der Nase. Ich sitze in meinem Zimmer auf dem Bett. Die Zimmertür steht halb offen. Ich weiß, dass es Leber zum Mittag gibt.
    Ich sitze auf dem Bett und schaue aus dem Fenster. Ich sehe die Äste des Kirschbaums, schwarze Äste. Dahinter den oberen Rand der Lärmschutzmauer. Dahinter die Lampen, die an dicken Kabeln über der Autobahn schwanken. Ich sehe hinaus, und ich sehe auch wieder nicht hinaus. Denn eigentlich bin ich nicht Augen. Ich bin Ohren. Ich höre meine Mutter in der Küche Zwiebeln schneiden. Das ist nicht ungewöhnlich. Ich höre meine Mutter pfeifen. Sie pfeift beim Schneiden. Sie pfeift und sie singt beim Schneiden, das ist ungewöhnlich. Ich habe meine Mutter noch nie pfeifen und singen gehört. Ich hole meine Blicke zurück ins Zimmer. Sie gleiten über die Poster an den Wänden, über das Regal mit meinen Büchern, über meinen Schreibtisch. Sie landen auf dem aufgeschlagenen Buch auf meinem Schoß. Ich höre meiner Mutter beim Pfeifen zu. Das ist das einzig Wichtige, im Moment.
    Ich schleiche mich in den Flur. Ich setze mich auf die dritte Stufe der Treppe. Die Treppe knarzt. Von der dritten Stufe aus kann ich nach unten in den Flur sehen. Ich kann besser hören. Die Treppe knarzt, wenn ich mich bewege. Lalala, singt meine Mutter in der Küche. Lalala. Meine Mutter kichert. Es liegt Staub auf der Flurlampe. Die Lampe sieht aus wie eine Blume. Mit Blütenblättern. Meine Mutter kichert.
    Nein, das habe ich nicht, sagt sie.
    Was machst du?, frage ich. Ich stehe in der Küchentür, an den Rahmen gelehnt. Meine Mutter hat mich nicht kommen gehört. Sie sieht normal aus, wie immer. Sie pfeift nicht mehr.
    Oh, sagt sie, hast du mich erschreckt.
    Was machst du?, frage ich.
    Was soll ich schon machen, sagt sie. Ich bereite das Mittagessen vor. Es gibt Leber. Willst du mir helfen?
    Du pfeifst, sage ich. Du pfeifst vor dich hin.
    Du könntest das Fleisch schneiden, sagt meine Mutter. Sie zeigt mit dem Zwiebelmesser auf das Fleisch. Dunkelrote Leber liegt auf einem Holzbrett. Die Leber glänzt. Ich schneide gerne Leber, das weiß meine Mutter. Ich schneide gerne dunkelrote, glänzende Glibberleber in kleine Stücke. Ich wende sie gerne in Mehl.
    Du hast vor dich hin gepfiffen, sage ich.
    Warum soll ich nicht pfeifen?, sagt meine Mutter. Es ist doch nicht verboten. Ich kann doch pfeifen, wenn mir danach ist.
    Du hast gepfiffen, sage ich. Und du hast vor dich hin gesungen und mit dir selbst gesprochen. Das machst du sonst nie.
    Das macht man halt manchmal, wenn man allein ist.
    Sie schiebt die klein geschnittene Zwiebel auf einen Teller. Aber das stimmt nicht. Sie hat noch nie mit sich selbst gesprochen. Meine Mutter ist immer still. Meine Mutter ist meine Mutter und sie benimmt sich wie eine Mutter. Mütter reden nicht mit sich selbst und kichern dabei und pfeifen.
    Du kannst das Fleisch schneiden, wenn du magst.
    Ich will das Fleisch nicht schneiden, sage ich.
    Ich gehe hinauf in mein Zimmer. Ich sitze auf dem Bett. Ich bin zwei große Ohren. Meine Mutter pfeift nicht mehr.
     
    2
    Was machst du?, frage ich Mark.
    Seine Mutter hat mich hereingelassen. Seine Mutter heißt Frau Bloom. Mark heißt Mark Bloom. Mark sitzt im Wohnzimmer auf dem Teppichboden. Das Wohnzimmer ist groß und unaufgeräumt. Viele Dinge liegen da herum, Stapel mit Papier und alte Zeitschriften. Kleidungsstücke. Gläser stehen herum und Schachteln. In einer Ecke steht ein großes Klavier, ein Flügel, aber Mark spielt nicht darauf. Keiner spielt darauf.
    Ich experimentiere, sagt Mark.
    Was experimentierst du?, frage ich.
    Ich experimentiere mit meinem Chemiebaukasten.
    Ich setze mich zu Mark auf den Fußboden. Bei Blooms muss man die Schuhe nicht ausziehen, auch nicht im Wohnzimmer. Mark gießt aus einem Plastikfläschchen ein wenig blaue Flüssigkeit in ein Glasröhrchen.
    Was ist das für ein Experiment?, frage ich.
    Halt mal das Reagenzglas, sagt Mark und gibt mir das Röhrchen. Ich gebe jetzt etwas Ammoniak hinzu, und dann muss es anfangen zu qualmen. Und das Glas

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