Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt
nie außerhalb des Archivs gesehen habe. Er muss ein ziemlich einsames Leben führen.
»Was immer die Probleme auf der Sol-Erde verursacht hat.«
»Oh.«
»Was?«
Orion sagt eine ganze Weile lang nichts und sieht mich nur an, als wäre ich ein Puzzle, bei dem ein Teil fehlt. »Das ist ein ungewöhnliches Thema, um es zu studieren. Ein bisschen düster, findest du nicht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Der Älteste will, dass ich etwas herausfinde.«
»Ah, Recherchen für den Ältesten. Also, am besten fängst du mit den Wand-Floppys an.« Er deutet auf die vier großen Bildschirme, die in der Eingangshalle an der Wand hängen, zwei auf jeder Seite. Orion geht auf den zu, der ihm am nächsten ist, tippt darauf, und sofort schalten sich alle vier Floppys an und erfüllen die Halle mit ihrem Licht.
Ständig wechselnde Bilder tauchen auf: Diagramme eines bleigekühlten Schnellbrutreaktors, eine Darstellung des Bewässerungssystems auf dem Versorgerdeck, Gemälde von Harley und anderen Künstlern an Bord, digitalisierte Abbildungen von potenziellen geografischen Gegebenheiten auf der Zentauri-Erde.
»Wir brauchen deinen Zugang«, sagt Orion. Als ihm mein fragender Gesichtsausdruck auffällt, fügt er hinzu: »Die Bauern dürfen sich keine Aufzeichnungen von der Sol-Erde ansehen.«
Ach ja. Das hatte ich vergessen. Diese Bilder hier dürfen alle sehen, aber die Information, die ich für den Ältesten finden soll, gehört zum Geheimmaterial. Also gehe ich zu dem biometrischen Scanner an der Wand und drücke meinen Daumen auf das Feld. »Junior/Ältester Zugang gewährt«, sagt die angenehme Frauenstimme des Computers.
Die Bilder ändern sich. Jetzt sind Gemälde von der Sol-Erde zu sehen – und nicht nur die, die von Künstlern der Godspeed stammen. Diese Leute gehören nicht alle derselben Rasse an. Im Gegensatz zu den Bildern der Zentauri-Erde sind die Bilder der Sol-Erde nicht der Fantasie eines Künstlers entsprungen. Ich starre ins gepuderte papierweiße Gesicht einer Frau mit toupierten Haaren und einem Kleid, das so weit ausgestellt ist, dass es bis an beide Seiten des Bildschirms reicht. Ich frage mich, wann und wo sie wohl gelebt haben mag, wer sie gewesen ist. Ich schaue in eine andere Welt, die für mich genauso unerreichbar ist wie die Zentauri-Erde.
»Vielleicht ist es der Feldzug von Dschingis Khan, über den du etwas lernen sollst«, murmelt Orion vor sich hin. Er tippt auf den Bildschirm und das weiß angemalte Gesicht der Frau wird von dem eines schreienden braunen Mannes mit mandelförmigen Augen und schmutzigen verfilzten Haaren ersetzt. »Oder der Völkermord in Armenien?« Eine Karte der Sol-Erde ersetzt den schrecklich aussehenden Mann. Der Umriss eines kleinen Landes blinkt und lädt mich ein, darauf zu tippen und mehr zu erfahren.
Aber bevor ich den Schirm berühren kann, tippt Orion auf etwas anderes. Die Karte verblasst und es taucht ein Diagramm auf. Ich starre konzentriert auf die winzigen Zeilen. Es ist eine Ahnentafel, die Kinder ihren Eltern zuordnet. Mein Blick fliegt über das Diagramm, springt von einem Namen zum nächsten, und erst als Orion »Upps« murmelt und eine andere Landkarte auf den Schirm holt, wird mir klar, dass der Name, den ich auf dem Diagramm gesucht habe, mein eigener war. Was natürlich albern ist, weil die Ahnentafel viel älter ist als ich.
Ich hole tief Luft und achte nicht darauf, welchen Krieg oder Völkermord mir Orion als Nächstes auf den Schirm geholt hat.
Als Junior darf ich meine Eltern nicht kennen. Das würde mich voreingenommen machen und könnte sentimentale Gefühle verursachen, die möglicherweise meine Führungsqualitäten beeinflussen, wenn ich Ältester bin. Das weiß ich. Ich finde es sogar richtig .
Aber trotzdem.
Ich wüsste trotzdem gern, wer sie sind.
»Junior?«, fragt Orion besorgt. »Alles in Ordnung?«
Ich nicke.
Orion mustert mich, aber ich weiß nicht, was er in meinem Gesicht zu finden hofft.
Und dann erwische ich mich dabei, wie auch ich ihn betrachte, und ich weiß genau, was ich zu finden hoffe. Ist das meine Nase in seinem Gesicht? Meine Augen? Meine Lippen? Bisher ist mir Orion nie wirklich aufgefallen. Er hält sich immer im Hintergrund und verschmilzt sozusagen mit den Aufzeichnungen, die er aufbewahrt. Aber jetzt, wo ich ihn mir richtig ansehe …
Könnte dieser Mann mein Vater sein?
Mir stockt der Atem und ich muss heftig den Kopf schütteln, um mich wieder in den Griff zu bekommen. Klar, Orion sieht aus
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