Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt
Vielleicht gibt es doch ein weiteres Deck.
7
Amy
Ich höre etwas.
Ein Quietschen. Meine Tür ist offen, meine kleine Grufttür ist geöffnet worden, und es ist heller hier drin. Ich kann durch meine zugeklebten Lider einen Anflug von Helligkeit wahrnehmen und jetzt zieht jemand meinen Glassarg heraus.
Etwas hebt den Sarg an; es fühlt sich in meinem gefrorenen Magen an, als säße ich auf einer Schaukel, und ich versuche, mich an dieses Gefühl zu klammern und versichere mir selbst, dass es real war. Haben die den Deckel abgehoben? Ich kann hören – ich kann hören! –, wie gedämpfte Stimmen durch das Eis dringen. Sie werden lauter! Die Geräusche sind nicht nur Vibrationen im Eis, es sind wirklich Stimmen. Da reden Leute!
»Noch ein bisschen mehr«, sagt eine Stimme, die mich an Ed erinnert.
»Das Eis schmilzt schnell.«
»Ist sie –« Ich kriege nichts mehr mit, weil ein rauschendes Geräusch über mich hinwegflutet.
Zum ersten Mal seit dreihundertein Jahren spüre ich Wärme. Kein Eis, sondern ein prickelndes Gefühl in den Nervenenden meiner Haut, das ich schon verloren geglaubt habe.
»Warum hat sie sich noch nicht bewegt?«, fragt die erste Stimme wieder. Sie klingt nicht nach dem gefühllosen Ed, sondern eher nach dem netteren Hassan.
»Nimm mehr Gel.« Etwas wird in meine Haut einmassiert. Ich merke, dass mich zum ersten Mal seit mehr als drei Jahrhunderten jemand berührt . Sanfte Hände kneten mein kaltes Fleisch mit einem Zeug, das mich an das Sportgel erinnert, das ich für mein Knie verwendet habe, als ich es mir beim Schulsport verdreht hatte. Ich bin so glücklich, dass ich platzen könnte.
Und das ist der Moment, in dem mir klar wird, dass ich nicht lächeln kann.
»Es funktioniert nicht«, sagt die sanfte Stimme. Sie klingt plötzlich traurig. Enttäuscht.
»Versuch –«
»Nein, sieh doch, sie atmet nicht mal.«
Stille.
Ich befehle meiner Lunge, Luft einzusaugen; ich will meine Brust dazu bringen, sich im Rhythmus des Lebens auf und ab zu bewegen.
Etwas Kaltes – ich will nie wieder kalt sein – presst sich auf meine linke Brust.
»Kein Herzschlag.«
Ich konzentriere meinen ganzen Willen auf mein Herz – schlag schon, verdammt! Schlag! Aber wie kann man seinem Herzen sagen, dass es schlagen soll? Ich hätte ihm genauso wenig befehlen können, nicht zu schlagen, bevor ich eingefroren wurde.
»Sollen wir noch warten?«
Ja! JA. Wartet, ich komme. Gebt mir nur etwas Zeit zum Auftauen, dann werde ich mich aus dem Eis erheben und wieder leben. Ich werde euer gefrorener Phönix sein. Gebt mir nur die Chance dazu!
»Nein.«
Mein Mund. Ich konzentriere mich mit aller Kraft auf meinen Mund. Lippen, bewegt euch! Sprecht, ruft, schreit!
»Schieb sie wieder rein.«
Der Tisch biegt sich unter dem Gewicht des Deckels, den sie wieder über mich legen. Und ich spüre es im Magen, wie sie mich wieder in meine Gruft schieben.
Die Tür klickt zu.
Ich will schreien, aber es geht nicht.
Weil nichts davon Wirklichkeit ist.
Es ist nur wieder ein Albtraum.
8
Junior
Doc ist in der Lobby des Krankenhauses und hilft einer Schwester, einen alten Mann zur Patientenaufnahme zu bringen. Als Doc mich sieht, kommt er auf mich zu.
»Hast du Harley gesehen?«, fragt er.
»Nein.« Ich muss grinsen. Harley versteht es meisterhaft, sich zu verdrücken, wenn Doc die Medikamente austeilt.
Doc fährt sich mit den Fingern durch sein dichtes Haar. Er bemerkt mein Grinsen und sieht mich finster an. »Das ist nicht witzig. Harley muss seine Medizin regelmäßig einnehmen.«
Ich bemühe mich, ein ernstes Gesicht zu machen. Manchmal gerät Harley in eine düstere Stimmung, aber ich denke, das hat mehr damit zu tun, dass er Künstler ist, und weniger damit, dass Doc ihn für verrückt hält. Außerdem ist er mein bester Freund. Ich werde ihn ganz bestimmt nicht verraten.
»Ich will das nicht!«, brüllt der alte Mann am Empfang. Doc fährt herum. Der Alte hat die Schwester abgeschüttelt, die ihn hineingeführt hat. »Ihr könnt mich nicht zwingen! Ich leg mich in kein Krankenhausbett, ich bin nämlich nicht krank!« Er unterstreicht seine Worte mit einem bellenden Husten und spuckt einen Batzen Schleim auf den Boden.
»Aber, aber, immer mit der Ruhe«, sagt Doc und geht auf den Mann zu.
Der Alte richtet seine trüben Augen auf ihn. »Wo ist meine Frau? Habt ihr die auch?«
»Steela ist nicht hier«, sagt Doc und legt dem Alten seine Hand auf den Arm. »Sie ist nicht krank. Im Gegensatz zu
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