Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)
ihn wie der Strahl eines Scheinwerfers. Doch die Helligkeit ist nicht nur in seinen Augen, sie ist überall, dringt in ihn ein, als wäre er aus Glas. Einen Augenblick später ist alles vorbei.
Christoph kann wieder sehen. Der Seher flüstert Spork etwas ins Ohr, dann fällt die Entscheidung: »Falke!«
Und das ist viel. Er, der Jüngste, wird mit der Vorhut fliegen …
Zurück im Quartier diktiert er einen Brief an seine Mutter. Die Überfahrt sei gut verlaufen, sie möge sich keine Sorgen machen. Kein Wort von Spork und der Ehre, die ihm zuteilgeworden ist. In Liebe, Christoph. Es ist wie ein Abschied. Wenn die Antwort eintrifft, wird er nicht mehr hier sein …
Tags darauf der erste Probeflug mit dem Falken. Der Steuerknüppel reagiert auf die leiseste Bewegung. Ein winziger Druck, und das Triebwerk brüllt auf, presst ihn mit seinem Schub in die Sitze. Der Falke hebt seinen Raubtierschnabel, und Augenblicke später liegt das Flugfeld tief unter ihnen. Sie erhalten die Freigabe und durchstoßen den blau schimmernden Energieschirm. Die Dunkelheit hat sie wieder, doch jetzt kann Christoph die Geschwindigkeit spüren, ist selbst Herr über Weg und Ziel. Sie gewöhnen sich rasch aneinander, der Falke und er, verschmelzen zu einem Wesen – mit wachen Sinnen und Gliedern aus Stahl. Die Erschöpfung spürt Christoph erst später am Boden. Wie ein Betrunkener taumelt er über das Flugfeld, schleppt sich in sein Zimmer und schläft sofort ein.
Ein Schrei zerreißt seinen Schlummer.
Christoph fährt auf und findet sich auf einer steilen Felskuppe wieder. Tief unten der Wald. Wieder ein Schrei, voller Schmerz. Eine Frau!
Er starrt nach unten. Seine Augen sind scharf, und da, zwischen den Bäumen, blitzt etwas Helles. Christoph stößt sich ab, springt in die Tiefe. Er hat Angst, aber etwas sagt ihm, dass die Luft ihn tragen wird. Er breitet die Arme aus, nein nicht Arme, Schwingen!, und gleitet auf die Wipfel zu. Äste greifen nach ihm, versuchen ihn aufzuhalten, doch er stößt sie beiseite, fliegt, stürzt, läuft dem Schreien entgegen, das jetzt kaum mehr als ein Wimmern ist.
Auf einer Lichtung findet er ein Kreuz, ein Kreuz aus roh behauenen Stämmen, und als er hinaufblickt, entringt sich seiner Kehle ein Schrei. Magdalena!
Sie trägt das gleiche weiße Sommerkleid wie damals am Flughafen, doch jetzt ist es blutgetränkt. Jemand hat ihr dicke Zimmermannsnägel durch Handflächen und Füße getrieben.
»Hilf mir!«, wimmert sie, doch seltsam, der Mund, der die Klagelaute ausstößt, scheint zu lächeln. Mit einem Satz ist Christoph heran, reißt die Nägel mit bloßen Händen heraus, und das Mädchen gleitet in sein Arme. Er hält sie fest, nein, jetzt ist es Magda, die ihn an sich presst. Ihre Finger bohren sich wie Klauen in seinen Nacken. Er spürt den Schmerz nicht, nur ein seltsames Gefühl der Schwäche. Und dann löst sie sich für einen Augenblick von ihm. Ihr Mund ist rot, rot vom Blut, seinem Blut. Und dann lacht sie, wild und triumphierend. Lacht sogar noch, als Christoph schweißgebadet hochschreckt.
Es dauert lange, bis sich sein Herzschlag beruhigt. Christoph begreift, dass er Magda verloren hat. Vielleicht hätte er ihr sagen sollen, weshalb er gehen musste. Aber sie hat seinen Vater ja nicht einmal gekannt …
Er steht auf und schaltet das Terminal an. Die Nachricht, an Magdalena K. adressiert, enthält nur zwei Worte: »Verzeih mir.«
You may not see me tomorrow …
Der Morgen gehört den Gerüchten, die wispernd die Flure durcheilen: »Es geht los … schon bald!«
Gut, denkt Christoph. Ich bin bereit.
Am Flugfeld warten zwei Männer auf ihn. Die anderen. Christoph weiß es, bevor das erste Wort gesprochen ist. O’Brian und Romanow werden mit ihm fliegen. Ihre Falken sind bereits startklar. Christoph beeilt sich, ihnen zu folgen.
Die beiden sind schnell. Sie jagen einander wie Kinder. Gleißende Lichtspeere durchbohren die Nacht. Er weicht ihnen aus, zieht den Falken nach oben, bis rote Ringe vor seinen Augen tanzen. »Gut!«, sagt jemand, und es ist wie ein Geschenk.
Ein Signal ruft sie zurück. Spork. Er will sprechen. Als sie landen, stehen die Männer bereits im Karree. Zehntausend, vielleicht mehr. Wer wollte sie zählen?
»Morgen«, sagt der Admiral, und seine Stimme fegt wie ein kalter Windstoß über den Platz. »Morgen wird die Armada aufbrechen.« Bis Mittag müssen sie marschbereit sein. Er verspricht ihnen nichts, schon gar nicht den Sieg. Deshalb vertrauen sie
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