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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis
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Sundown Fidelity versichert, also schickte man mich, damit ich die Sache unter die Lupe nahm. Es war ein Volltreffer. Der Fahrer wurde von den Cops auf Drogen und Alkohol getestet, negativ, und ich trieb drei Leute auf, die bezeugen konnten, dass der Komplize Tequila und Joint versteckt hatte. Ich suchte den mehr als angeschlagenen Betrüger im Krankenhaus auf.
    »Ich kriege nichts?«, fragte er durch den Schlitz in seinem Kopfverband.
    »Nur eine Rechnung für den kaputten Scheinwerfer am Bus«, sagte ich, »und eine Gefängnisstrafe, anzutreten, wenn Sie wieder auf dem Damm sind.«
    »Scheißkerl«, sagte er und der Kraftausdruck suchte sich pfeifend seinen Weg durch den Gips.
    »So lautet meine Berufsbezeichnung, Sir.«
    Der Gemütszustand der Selbsttäuschung ist bei Menschen eine Variable. Das gilt übrigens auch in meinem Fall.
    Nachdem mein Vater gestorben war, wurde Velma wunderlich. Anfänglich sah es nach neuem Schwung aus. Sie sprühte vor Energie, putzte das Haus, bis es nahezu unbewohnt aussah. Sie kaufte neue Möbel und ließ die alten Sachen von der Heilsarmee abholen. Sie deklamierte schwer verständliche Gedichte im Garten. Als das Geld aus der Lebensversicherung meines Vaters allmählich zur Neige ging, nahm sie einen Job als Schülerlotsin im nächstgelegenen Schuldistrikt an, in genau dem Schuldistrikt, wo sie als angesehene Lehrerin ihr gesamtes Berufsleben verbracht hatte. Außerdem arbeitete sie schwarz in einer Bäckerei, war verantwortlich für die Herstellung von Brötchen, die sie dann um fünf Uhr morgens an die Lebensmittelläden und Cafés im Upper Valley auszuliefern hatte. Zu diesem Zwecke trainierte sie sich das Fahren mit einer der nahezu fabrikneuen Limousinen meines Vaters an. Eines Nachts erwischte der Schichtleiter sie dabei, wie sie Vanille direkt aus der Flasche trank. Voll auf Vanille, fuhr sie ihren Wagen in das Schaufenster eines 7-Eleven. Somit ging der Job als Schülerlotsin flöten, ebenso der in der Bäckerei.
    Ein paar Jahre später begannen die Gespräche mit meinem Vater. Einmal bekam ich mit, wie sie mit ihm schimpfte: »Hättest du nur auf Doktor Arroyo gehört, Liebling«, sagte sie. »Er hat uns gewarnt. Hundertmal hat er dir gesagt, du sollst kürzertreten und mehr auf dich achten.« Sie saß an ihrem neuen Esstisch und sprach mit der Tapete an der Wand gegenüber. Nachdem sie ihm sozusagen die Leviten gelesen hatte, las sie meinem Vater nun Gedichte vor — Gedichte, die sie ihren Schülern an der Highschool vorgetragen hatte, um sie ihrem Schlummer zu entreißen.
    »Mit wem redest du, Mom?«, fragte ich.
    »Mit deinem Vater«, platzte es aus ihr heraus. Als ihr jedoch bewusst wurde, was sie soeben von sich gegeben hatte, verlegte sie sich aufs Kokettieren. »Ich meine, nein, nicht mit deinem Vater«, säuselte sie. »Ich habe nur gerade an ihn gedacht. Habe quasi laut gedacht.«
    Einen Monat später ertappte ich sie erneut dabei. Diesmal fragte ich nicht nach. Viele alte Leute reden mit der Wand, sagte ich mir. Das hat nichts zu bedeuten.
    Dann ging es mit den Jungfrauen los. Velma war eine begeisterte Leserin von Büchern, die sich mit dem Okkulten beschäftigten. Sie las Bücher, die sich für die Existenz von Engeln ins Zeug legten. Sie las Bücher über Phänomene, für die es keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Sie las aber auch wissenschaftliche Bücher. Sie las ein nicht-mathematisches Buch über das Neueste in der theoretischen Physik, die jüngsten Erkenntnisse zum Thema Stringtheorie, und behauptete, es zu verstehen. Laut Velma erklärt die Stringtheorie, dass es in anderen Dimensionen nicht nur Wesen gebe, sondern dass diese uns auch besuchen könnten, vorausgesetzt, die Schwingungen der Strings stimmten. Die Jungfrau war eine dieser Besucherinnen. UFOs? — auch sie waren transdimensionale Reisende. Bigfoot? — ein Geschöpf aus Dimension Numero fünf. Hitler? Idi Amin? Saddam? Jeffrey Dahmer? — Ungeheuer aus einer Dimension, die gemeinhin als Hölle bekannt ist. »Die wirkliche Welt ist elfmal unterteilt«, sagte sie. »Jeder Teil ist verschieden und dennoch genauso real wie der, in dem wir leben. Es gibt elf Versionen von dir, J.P. In vier Dimensionen ist dein Vater noch am Leben, tot und begraben ist er in sieben und in einer davon wird nicht um ihn getrauert. Deswegen kann ich mit ihm reden. Und weißt du was? Nur weil man aus Dimension fünf, sechs oder elf kommt, ist man kein bisschen klüger, als man in Dimension eins oder drei ist.

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