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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis
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kann ich den Hirten ausmachen, der den Wall erklimmt, den rauchenden Geschützturm eines T-72 im Rücken. Er trägt die obligatorische AK-47. Manchmal ist es keine Waffe, sondern ein Hirtenstab. Manchmal trägt er Olivgrün, manchmal den Umhang eines Hirten. Aber wo sind die Schafe oder Ziegen oder was auch immer diese armen Schweine haben? Er zeigt mit seinem Stab auf mich, kommt näher und lächelt freundlich. Nette Leute, diese Iraki. In meinem dürren, in zwei Wochen aufgeschnappten Arabisch rufe ich ihm zu, den Stab fallen zu lassen. Bitte, lass doch die Scheißwaffe fallen, sadi kie, mein Freund. Runter auf die Knie, Hände hinter den Kopf! Wo sind deine verdammten Schafe? Doch der Shamal mit seinen vierzig Knoten heult los und es sticht in meinen Augen hinter der Schutzbrille. Er kommt auf mich zu, lächelt, versteht mich nicht, will sich ergeben, weiß aber nicht, wie. Er sieht sanftmütig aus, wie Jesus in einem Passionsspiel. Jesus mit den Fingern am Abzug einer AK-47. Hinter ihm brennt ein Mannschaftswagen, darauf die jüngst Gefallenen. Wenn du dich ergeben willst, lass das Ding fallen! Ich sage es auf Englisch, aber er kommt näher, stemmt sich gegen den Wind, lächelt, und es bleibt keine Zeit mehr für Überlegungen. Sehen Sie irgendwelche Scheißschafe?, frage ich Apostoli. ER ist IHR Scheißschaf, antwortet der. Schalten Sie ihn aus, den naiven Mistkerl! Allahu Akbar!, schreit der Schäfer und mein Mund wird trocken wie der Sand um mich herum, als ich den Selektor auf Automatik schiebe. Der Iraki begreift eine Sekunde zu spät, was ich vorhabe. Er lässt die AK-47 fallen, doch da habe ich schon einen 3-Schuss-Feuerstoß auf seine Brust abgegeben. Es hat ihn von den Beinen gerissen und mit zuckenden Gliedern fällt er den Wall hinunter. Seine Augen haben noch nicht den traumverlorenen Ausdruck des Todes, noch sind sie lebendig vor Angst. Ich jage einen weiteren Feuerstoß in sein noch schlagendes Herz und endlich ist er tot, tot wie Jesus. Ich stehe über ihm und blicke in seine Augen. Dummer Wichser, sage ich, doch ich zittere. Boos teezee, sharmuta, — leck mich, Hurensohn, eine verstümmelte Beleidigung, die ihn nicht mehr erreicht.
    Ich wache nicht mehr schweißgebadet und mit Herzrasen auf, nur ein wenig verwirrt, und ich frage mich, weshalb der Traum so hartnäckig ist. Seit Kuwait sind sechzehn Jahre vergangen, sechzehn Jahre, seit ich den irakischen Rekruten wegpustete, der sich einen Herzschlag zu spät ergab.

4
    Luther wohnt in Kern Place, einem alten, vornehmen Viertel, das in den Vorgebirgen der westlichen Franklin Mountains eingebettet liegt. Etliche Häuser in Kern sind alte, imposante Villen, erbaut im spanischen Stil: rote Ziegeldächer, Innenhöfe, umgeben von Steinmauern, die mit Glasscherben gespickt sind, um Eindringlinge abzuschrecken, Gitter aus Schmiedeeisen vor Fenstern und Türen. Die Gitter sind antik, angefertigt von Kunstschmieden in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie sind äußerst dekorativ, haben aber keineswegs nur dekorative Funktion. Kern ist stets im Fokus der ladrónes — der Diebe, die den Rio Grande durchwaten auf der Suche nach Gegenständen, für die man in den einschlägigen Seitenstraßen von Juárez, wo das Geschäft der Hehlerei floriert, einen guten Preis erzielen kann. Waren es früher bevorzugt Computer, sind es jetzt Flachbildfernseher. Aber auch jedes andere elektronische Gerät, vom DVD-Player bis zum Mobiltelefon, ist für die Diebe von Interesse.
    Luther hatte Besuch von einem großen, sportlichen Mann mit flinken Augen und verschlagenem Gesichtsausdruck. Er war gekleidet wie ein Banker: Dreiteiler mit Nadelstreifen, dazu Brogues von Gucci. Anzug und Schuhe passten nicht zu den Ohrsteckern aus Jade und dem Unterlippenbart. Die silbergrauen Dreadlocks auf seinem Kopf rundeten den Kontrast ab. Der Kerl war ein Weißer, doch alles an ihm signalisierte: »Ich bin so cool wie jeder dieser schwarzen Brüder. Bilde dir nicht ein, du könntest mit mir konkurrieren.«
    Als ich eintrat, erhob er sich. Noch bevor er seine übereinandergeschlagenen Beine bewegt hatte, wusste ich, was er war: Luther hatte einen windigen Privatschnüffler engagiert. Wir gaben uns die Hand. Seine war feucht und hielt meine einen Tick zu lange. Er bleckte die Zähne. Dieses Tausenddollarlächeln war mir auf einem guten Dutzend Gebrauchtwagenplätzen entgegengekommen. Ich kannte ihn nicht, aber ich kannte seinen Stil.
    »Ham Scales«, sagte er.
    »Wie bitte?«,

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