Götterdämmerung in El Paso (German Edition)
Es ist immer dasselbe alte Ich, mit allen Fehlern und Schwächen. Das Einzige, dem man nicht entkommen kann, ist das eigene Ich.«
»Erzähl das bloß niemandem von der Adult Protective Services, bitte, Mom«, sagte ich. »Die sind wahrscheinlich nicht ganz fit, was die Stringtheorie betrifft.«
Ihr müdes, altes Gesicht erstarrte. Sie war erst 74, sah aber aus wie 84. »Denen werd ich’s zeigen«, sagte sie. »Ich gebe mein Zuhause nicht auf.«
Über den Nachmittag verteilt trank sie mehrere Wassergläser eisgekühlten Muskateller, mit der Begründung, das sei gut für ihre Nerven. Mir goss sie auch immer eines ein, das ich bei der erstbesten Gelegenheit in den Ausguss schüttete.
»Du kannst es denen im Rathaus nicht zeigen«, widersprach ich. »Wenn die kommen, um nach dir zu sehen, erwähne nur keine Jungfrauen im Dachbalken. Solches Gerede ruft die erst recht auf den Plan.«
Sie wurde ziemlich unruhig, wohl wissend, dass ich richtig lag. Doch sie würde niemanden anlügen, wenn es um das durch die Stringtheorie gestützte Phänomen von Besuchern aus anderen Dimensionen ging. Zu lügen, wenn man die Wahrheit kennt, war die größte Sünde, die sie sich vorstellen konnte.
»Du bist nicht gläubig, Mom«, sagte ich. »Im Übrigen auch keine Naturwissenschaftlerin. Du warst Englisch-lehrerin an einer Highschool.«
»Du weißt gar nichts von mir«, sagte sie. »Ich bin immer gläubig gewesen. Ich halte nur nichts davon, in die Kirche zu gehen. Ich habe mich immer für Naturwissenschaften und Literatur gleichermaßen interessiert. Ich bin nicht dumm und ich mag es nicht, wenn man mich behandelt, als wäre ich es.«
Und so nahm die Sache ihren Lauf. Velma war auf ihre Wahrheit gestoßen. Ob durch neurologische Funktionsstörungen oder transdimensionale Besucher war vermutlich unerheblich. Wahrheit ist Wahrheit, gleichgültig, auf welchem Wege sie sich Zutritt verschafft. Schiere Logik vermag sie nicht zu verdrängen.
Zurück in meinem Apartment, fand ich eine Nachricht von Luther auf meinem Anrufbeantworter vor. Er hatte alles gegeben, um sein Schluchzen zu unterdrücken. Ich rief ihn zurück.
»Sie ist weg, J.P.«, sagte er. »Sie ist gestern Abend nicht von der Arbeit nach Hause gekommen. Heute Morgen klebte ein Zettel an der Eingangstür. Kaum zu entzifferndes Gekritzel, dabei ist ihre Handschrift normalerweise perfekt. Ich habe die Polizei gerufen, um sie als vermisst zu melden. Die haben mich beinahe ausgelacht. Dann haben sie mich gefragt, ob wir Streit gehabt hätten. Das klang so, als wären unsere Auseinandersetzungen allgemein bekannt. Sie haben mich praktisch beschuldigt, sie aus dem Haus getrieben zu haben, diese Hurensöhne.«
»Und … hast du?«, fragte ich.
»Mein Gott, du nicht auch noch.« Sein Elend drang buchstäblich durch den Hörer. Ich hatte das Gefühl, meine Ohren würden feucht.
»Was stand auf dem Zettel?«
»Herzlich wenig. ›Luther, ich brauche etwas Zeit. Mach dir keine Sorgen um mich. Vergiss nicht, Gretchen zu füttern und ihr Katzenklo sauber zu machen. Ich komme zurück, wenn ich wieder da bin.‹ Warum tut sie mir das an, J.P.? Was zum Teufel meint sie mit ›ich brauche etwas Zeit‹? Wofür?«
»Ich komme morgen vorbei.«
»Morgen! Von dir hört man immer nur ›morgen‹. Der mañana -Mann durch und durch.«
»Vielleicht siehst du einfach nur Gespenster, Luther.«
»Großartig! Vielen Dank für deine Unterstützung!« Er knallte den Hörer auf, doch kurz darauf fing das Telefon an zu klingeln. Ich verzog mich unter die Dusche, bevor der Anrufbeantworter ansprang.
Ich machte mir eine recht üppige Bloody Mary und sah ein wenig Nachrichten — der Rest der Welt fuhr noch immer per Mitternachtsexpress Richtung Hölle. Ich ging zu Bett.
Der Traum überfällt mich von Zeit zu Zeit: Ich befinde mich auf dem ansteigenden Sandufer eines vom Wind geriffelten Wadis. Fünfzig Meter weiter, hinter einem Sandwall, auf einer Berme, wartet jemand auf mich. Obwohl ich schlafe, kann ich meinen beschleunigten Herzschlag hören. Es ist eine dieser Schieß-doch-Bermen, die eigentlich ihre russischen Tanks verbergen sollen, nur dass die Geschütztürme in die Höhe ragen wie Zielscheiben, leichte Beute. Mit einer Stimme, rau vom kuwaitischen Sand, sagt Sergeant Apostoli: Sie sind wahrscheinlich alle tot, Morgan, aber machen Sie sich trotzdem drauf gefasst, Sand zu fressen. Apostoli, 49, hat Khe Sanh überlebt und nun ist er in Kuwait. Durch einen Schleier aus aufgewirbeltem Sand
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