Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)
Mensch und freute sich, durch diesen Dienst dem Herrgott für ein erfülltes Leben danken zu können. Und außerdem: Küster der Thomaskirche zu Leipzig. Das war doch was. Er liebte seine Berufung.
Er schaltete das Licht im Innenraum der Kirche an und blieb stehen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was, wusste er nicht. Er hatte keine Erklärung, es war eben nur so ein Gefühl. Er sah sich um, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Das hatte allerdings nicht viel zu bedeuten. Die Operation des Grauen Stars sollte er nicht mehr allzu lange vor sich herschieben. Er schlurfte mit seinem Tulpenbündel zum Altarraum. Die Umrisse des Altars, der Bestuhlung sowie die großen Bilder wurden deutlicher. Durch das bunte Kirchenfenster drang schon das erste Tageslicht herein. Als er die erste der drei kleinen Stufen betreten hatte und in den Altarraum sehen konnte, stockte ihm vor Schreck der Atem. Er ließ die Blumen fallen und starrte wie gelähmt in den Innenraum. Als er hörte, wie die Seitentür der Kirche mit einem lauten Quietschen und einem dumpfen Knall ins Schloss fiel, glaubte er, sein Herz würde stehen bleiben. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Dann schlug er das Kreuzzeichen auf seine Brust. Dies war bei evangelischen Christen ungewöhnlich, aber ihm war danach. Langsam verließ die Starre seinen Körper. Als er glaubte, sich wieder einigermaßen bewegen zu können, ging er, so rasch ihn seine alten Füße tragen konnten, zum Pfarrhaus.
Hauptkommissar Kroll war schon aufgewacht. Er hatte bei offenem Fenster geschlafen, das Gezwitscher der Vögel hatte ihn geweckt. Deshalb ertrug er es auch gelassen, dass sich zu so früher Stunde sein Handy meldete. Er schaute auf das Display. Staatsanwalt Reis. Er drückte auf die Taste mit dem grünen Telefonhörer.
Der Staatsanwalt klang aufgeregt. »Komm doch mal in die Thomaskirche. Ich denke, das solltest du dir ansehen. Bis gleich.«
Kroll hatte keine Chance nachzufragen. Reis hatte schon aufgelegt. Kroll stand auf und ging ins Bad. Wie immer, es war schon eine Angewohnheit, betrachtete er seinen durchtrainierten Körper im Spiegel. Kroll war alles andere als ein Muskelprotz, aber der Kampfsport, den er regelmäßig trieb, hatte für schön gezeichnete Muskeln gesorgt, und das Laufen verhinderte ein Anschwellen des Unterhautfettgewebes. Nicht schlecht für einen 45-Jährigen. Nachdem er die Dusche verlassen hatte, kämmte er mit einer Bürste seine dunkelblonden Haare zurück. Den Rest würde die Natur erledigen.
Vor den Eingängen der Thomaskirche war bereits das rot-weiße Flatterband der Polizei angebracht. Vor jeder Tür standen zwei uniformierte Polizisten und sorgten dafür, dass niemand das Gotteshaus betreten konnte. Die Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren weißen Overalls verrichteten ihre Arbeit im Altarraum. Staatsanwalt Reis stand vor dem Grab von Johann Sebastian Bach. Er nickte kurz in Krolls Richtung. Kroll glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er im Altarraum den Grund für die morgendliche Aufregung sah. Die schwere eiserne Grabplatte war zur Seite geschoben. Das Grab lag frei vor ihnen. Kroll schaute hinein. Der Deckel des Aluminiumsarges war abgehoben und lag neben dem unteren Teil. Nach seinem Tod im Jahre 1750 wurde Bachs Leichnam zunächst auf dem Leipziger Spitalfriedhof der Johanniskirche beigesetzt. Erst später hatte man ihn in die Thomaskirche umgebettet. Weil aufgrund der längst abgeschlossenen Verwesung nur noch die Gebeine des Komponisten geborgen werden konnten, waren weitere Maßnahmen der Erhaltung nicht mehr erforderlich. »Das gibt’s doch nicht«, flüsterte Kroll. Er sah wieder in das offene Grab. Dann atmete er einmal tief durch. »Wissen wir schon, ob etwas fehlt?«
»Dr. Schmidt ist bereits unterwegs. Er müsste jeden Moment hier eintreffen.« Reis legte Kroll seinen Arm auf die Schulter. »Komm. Wir setzen uns mal in eine der Bänke. Hier stehen wir ja eh nur im Weg.«
Sie setzten sich in die erste Reihe der Kirchenbänke. Es dauerte nicht lange, bis Bernhard Brecht, der Thomaspfarrer, zu ihnen kam. Er war Ende 40 und hatte eine sportliche Figur. Die schon ergrauten Haare hatte er auf eine Länge von fünf Millimetern gestutzt. Er trug Jeans, ein dunkelblaues Jackett und ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Seine intelligenten blauen Augen flackerten unruhig. Er gab den Beamten die Hand.
»Das ist ja unvorstellbar! Hat man heute vor gar nichts mehr Respekt? Weder vor der
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