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Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)

Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stammkötter
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Vor drei Wochen
    Es war schon lange dunkel im Labor des Biologischen Institutes. Das Gebäude war menschenleer. Nur in einem Raum brannte noch Licht hinter den zugezogenen Rollos. Der Leiter des Labors hatte wie immer seine Arbeitskleidung an: weiße Gummischuhe, weiße Hose und weißer Kittel. Nur den obligatorischen Mundschutz, den er eigentlich immer trug, hatte er abgelegt. Er hatte dem Mann, der ihm jetzt gegenüberstand und neugierig auf das Reagenzglas starrte, gesagt, er dürfe auf keinen Fall vor Mitternacht herkommen. Im Institut arbeiteten engagierte Wissenschaftler, aber nach elf Uhr war eigentlich niemand mehr im Büro. Das wusste er. Er kannte schließlich die Versuchsreihen.
    Er schwenkte das Reagenzglas mit der farblosen, leicht trüben Flüssigkeit. »Salmonellen sind keine harmlose Angelegenheit. Pass bloß auf, dass die Flüssigkeit nicht so lange liegen bleibt und verdünne sie großzügig.«
    Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. »Sei bitte ganz vorsichtig. Wenn jemand ein schwaches Immunsystem hat oder ein Kleinkind damit in Berührung kommt, kann die Sache ganz schlimm ausgehen!«
    Sein Gegenüber hatte beide Hände in den Hosentaschen. Er wirkte sehr selbstbewusst. »Jetzt mach dir mal keinen Kopf. Ich sorge nur für ein bisschen Durchfall. Die Jungs sind alle gesund und Kleinkinder kommen da sowieso nicht rein.«
    Die aufgesetzte Lässigkeit seines ungeliebten Gastes schien den Mann im weißen Kittel nicht zu beruhigen. Im Gegenteil. »Nimm das nicht zu leicht! Noch einmal: auf keinen Fall länger als zwei Tage liegen lassen und mit mindestens fünf Litern Flüssigkeit verdünnen. Ist das klar?«
    Der Besucher nahm eine Hand aus der Hosentasche und betrachtete das Glas aufmerksam. »Entspann dich. Glaubst du etwa, ich habe Lust auf Ärger?«
    Der Laborchef hängte den weißen Kittel an einen Haken. »Wir sehen uns nie wieder. Dabei bleibt es. Und jetzt sind wir endgültig quitt! Ein für alle Mal. Wenn ich deine Visage noch einmal sehe, kenne ich dich nicht. Der Rest ist mir dann auch scheißegal. Und wenn wir zusammen in den Knast gehen.«
    Der Besucher lächelte zum ersten Mal. Es war kein fröhliches Lächeln, eher böse und kalt. »Ja, ja. Der Herr Professor. Der große Biologe. Der Überflieger an der Uni. Der allerliebste Familienvater. Ausgerechnet der begrabschte während des Studiums minderjährige Jungen. Und das auch noch gegen Geld.«
    Er drehte sich um und sah dem Biologen direkt in die Augen. Sein Lächeln war verflogen. »Glaubst Du etwa, mir hat es Spaß gemacht, auf dem Strich mein Geld zu verdienen, weil ich sonst verreckt wäre?«
    Er steckte das Fläschchen mit der Flüssigkeit in die Jackentasche und ging zur Tür. »Du wirst mich nie mehr wiedersehen. Typen wie du kotzen mich sowieso an! Das war schon immer so.«

Samstagnachmittag
    Auf der Chorempore der Thomaskirche herrschte Hochbetrieb. Die Musiker des Gewandhausorchesters waren die Enge genauso gewohnt wie die vier Solisten. Die 1.800 Sitzplätze in der Kirche waren wie immer bis auf den letzten Platz besetzt. Vor der Kirche warteten die Reisebusse, um die Besucher, die nicht aus Leipzig kamen, wieder in ihre Städte zu bringen. Es war der letzte Samstag vor der Osterwoche. ›Komm süßes Kreuz‹, ein Stück aus Bachs Matthäuspassion, bildete den Abschluss der heutigen Motette. Gespielt wurde eine alte Fassung, zum Teil mit historischen Instrumenten, aus denen sich eine Gamba, ein mittelalterliches Cello, besonders hervortat.
    Der Thomaskantor, Johann Batiste Geller, ein leicht untersetzter Mann, dem man ansah, dass er sich mehr der Musik als der körperlichen Ertüchtigung verschrieben hatte, dirigierte wie immer nur mit den Händen. Der Thomanerchor war in Bestform. Die Jungs, bekleidet mit den traditionellen Kieler Blusen, und die Männer in Konzertanzügen folgten mit konzentriertem Blick, der nur ab und zu auf die Noten abglitt, die sie in der Hand hielten, den Handbewegungen des Thomaskantors. Mit einer angedeuteten Kreisbewegung seiner Hände, die abrupt stoppte, befahl Geller den Stimmen und den Instrumenten zu schweigen. Die Vorstellung war zu Ende.
    Die Musiker schlugen ihre Notenhefte zu. Die Solisten wechselten entspannte Blicke und lächelten sich an. Sie waren zufrieden mit ihrer Leistung. In der Kirche herrschte Stille. Sicher hätten sich viele Zuhörer gern mit tosendem Applaus für die überwältigende Vorstellung bedankt, aber sie respektierten den Hinweis im Programmheft: ›Wir bitten,

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