Goldmond
Prolog
I mmer wieder steigt die Erinnerung in ihm auf.
Wie der Nebel, der sich an diesem frühen Morgen aus den Wäldern erhebt.
Der Heiler kann einfach nicht vergessen, wie der Tod in sein Leben kam.
Er steht am Rand der hölzernen Plattform weit über dem Tal, der Himmel über ihm ist noch dunkel. Die Weiße Sonne, die sich jeden Morgen schon vor der Purpursonne zeigt, ist noch nicht über den Horizont gestiegen. Nur ein zartes Orange im Osten zeigt an, dass der Tag aufzieht und die Dunkelheit bald vertreiben wird. Doch für Telarion birgt dies keinen Trost in sich.
Noch beherrschen Nebel und Kälte die Welt. Die Wolken sind dicht und wehen selbst so weit oben am Berg in unterschiedlich dichten Schwaden durch die Tempelhalle, in der er steht. Die angenehme Frische der feuchtkalten Luft wird verschwinden, wenn die ersten Strahlen der Weißen Sonne über den Baumwipfeln die Nebel vertreiben. Hitze wird sich ausbreiten und die Kälte, die ihn umgibt, austrocknen.
Er ist ein Elb, und in ihm lebt die Magie der Luft und des Windes. Sie gleicht den Nebeln, dem frühen Morgen, der noch die Winterkälte in sich trägt, Und so versucht er, seine Magie mit der morgendlichen Brise zu nähren. Er breitet die Arme im Gebet aus, als wolle er die Nebelschwaden zu sich einladen.
Er weiß, für einen Außenstehenden sähe es aus, als wolle er sich gleich vom Rand des Tempelraums aus in die Lüfte erheben. So als könne er sich mit den niedrigen Wolken, die das Kloster des Goldmonds umgeben und durch es hindurchwehen, vereinen. Und dann gelingt es: Das brennende Feuer, das seit sechsZehntagen so schmerzhaft in ihm lodert, scheint mithilfe des Morgenwinds vertrieben; eine Last, die sich förmlich auflöst und von der Brise davongetragen wird.
Die Magie der Luft entspricht seinem innersten Wesen, das er wie einen grünlichen Wirbelsturm empfindet. Jetzt ist dieser frei und wird von der dunklen Magie nicht mehr niedergedrückt.
Der Morgenwind umschmeichelt nicht nur seinen Körper, sondern dringt in ihn ein, bis in den letzten Winkel, mischt sich mit dem Wind seiner Seele, hebt ihn hoch – und dann schwebt sein Geist plötzlich weit über der Welt. Nur vereinzelt lugen die baumgekrönten Hügel des Landes Norad aus den Frühnebeln. Die letzten Sterne verblassen am Nordrand der Welt, dort, wo die schneebedeckten Gipfel des Zendar-Gebirges in den dunkelblauen Himmel ragen.
Unter ihm liegt ein endloses Wolkenmeer. Telarion ist frei. Seine Magie, seine Seele, das, was ihn ausmacht, ist von kühlem Wind durchzogen und schwebt durch die Unendlichkeit des Äthers.
Doch dann wirft die Weiße Sonne gleißend die ersten Strahlen über den Horizont.
Der Schmerz, den die heiße Helligkeit auslöst, lässt Telarion aufstöhnen. Am Rand des Tempelraums geht er in die Knie.
Das fremde Feuer in Telarion ist erneut entzündet. Der Wirbelsturm, der für wenige kostbare Augenblicke frei und kalt in den Himmel stieg, trocknet schlagartig aus, und ohne weiteren Übergang ist er wieder gefangen in seinem Körper. Einem Körper, der seit sechs Zehntagen zu heiß ist, der schmerzt, weil fremde Magie eine Wunde in ihn gerissen hat, die nicht heilen will.
Denn vor sechs Zehntagen spürte er, dass sein Vater, der König aller Elben, starb.
Dajaram, wie sein jüngerer Sohn ein Heiler und Magier der Luft, wurde von dunklem Feuer vernichtet, wie es nur die Geschöpfe des Dunklen Mondes zu wirken verstehen und das für Elben den Tod bedeutet. Als Heiler hat Telarion gelernt, dieseArt von Magie zu verachten und zu verabscheuen. Er vermag mit der Gabe des Lebens das Gleichgewicht der Magie in der Seele eines Wesens wiederherzustellen; die Gabe des Todes zerstört diese Balance. Telarion verabscheut diese Magie, diese Kraft, die nicht vom Goldmond stammt, sondern von dessen Zwilling, dem Dunkelmond. Er kann sich nicht vorstellen, was sie Gutes bewirken sollte. Er kennt nur den Schmerz, den sie anrichtet.
Telarion weiß, dass der Dunkle Mond Akusu die Menschen aus Neid erschuf. Denn es war sein Zwilling, der Goldmond Vanar, der als Erster auf den Gedanken kam, sich ein Volk zu schaffen: das der Elben, dem auch Telarion selbst angehört. Es waren die Elben, die die Gabe des Lebens erhielten, wie auch das Geschenk, das Wasser zu beherrschen, die Lüfte und den Wind, den jedes lebendige Wesen auf dieser Welt atmet.
Als Heiler ist Telarion stolz darauf, gleich zwei dieser Geschenke des Goldmonds in sich zu tragen: die Gabe des Lebens und die Magie der Luft.
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