Das dunkle Erbe
BERNHARD SCHWAN verharrte auf der Schwelle. Der Vernehmungsraum erwartete ihn.
Ein gewöhnliches Büro. Schreibtisch. Gepolsterte Stühle mit Armlehnen. Eine Fensterfront auf der gesamten Länge des Zimmers, fast wie in einem Atelier. Neu, sauber, als seien die Handwerker erst vor kurzem mit den Arbeiten fertiggeworden. An der Wand ein Kalender, er zeigte eine Landschaft vor einem niedrigen Horizont. Wiesen, Steinmäuerchen, Schafe. Ganz in der Nähe musste das Meer liegen.
Einer der beiden Polizisten führte Schwan an seinen Platz. Der Uniformierte schaute sich um, als erwöge er die Fluchtmöglichkeiten.
Schwan ließ sich auf dem Stuhl nieder, der dem Schreibtisch gegenüberstand. Er war überraschend bequem.
Der Polizist legte dem mutmaßlichen dreifachen Mörder die Hand auf die Schulter. Schwan hatte sich bislang kooperativ verhalten. Aber bei diesen stillen, verschlossenen Typen wusste man nie. Durch den Stoff von Schwans Hemd war weder Aufregung noch Angst zu fühlen. Dann verließ der Polizist mit seinem Kollegen den Raum.
Die wenigen Verdachtsmomente würden bestimmt bald entkräftet sein, dachte Schwan. Es war nur eine Frage der Zeit. In der Arrestzelle hatte er sich entspannen können. Er war zum ersten Mal wieder zur Ruhe gekommen seit den schrecklichen Geschehnissen der vergangenen Tage. Doch eine Zelle war eine Zelle. Sie diente dazu, jemanden einzusperren, ihn abzuschotten. Zur Verwahrung oder zur Bestrafung. Niemand fühlte sich in einer Zelle wohl.
Den Vernehmungsraum empfand Schwan jedoch als eine Art neutrale Zone. Die Tür war nicht abgeschlossen. Der Abstand zwischen seinem Stuhl und den Wänden war erträglich. Noch hatte der Raum nicht Partei ergriffen. Vermutlich war er schallisoliert, und die beiden Polizisten hatten vor der Tür Aufstellung bezogen. Das musste wohl so sein.
Bernhard Schwan stand unter dringendem Tatverdacht. So hatten die Worte des Kommissars bei der Festnahme am Vormittag gelautet. Es war ein kurzer Schritt gewesen von der Autobahnkapelle St. Raphael zum Polizeipräsidium in Köln-Deutz. Die Räume glichen sich. Hier wie dort wurde anfangs geleugnet und am Ende doch gestanden, das war deutlich zu spüren. Hier wie dort erhoben sich eine Reihe von Fragen, die unterschiedliche Antworten erforderten, je nachdem.
Die Fenster besaßen keine Griffe. Das machte nichts, zumindest hatte Schwan freien Blick nach draußen. Das half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Der Himmel, die Wolken, das Unsichtbare. Er wollte Auskunft geben, nach bestem Wissen und Gewissen. Er wollte erfahren, was geschehen war. Die Tür öffnete sich.
Raupach nickte dem Kollegen Mülder zu, dessen Uniform an den Schultern sichtlich spannte, und betrat den Raum. Sein aus der Mode gekommener, dunkelblauer Anzug hatte in letzter Zeit stark gelitten. Seit ein paar Monaten trug er ihn wieder anstelle der legeren Alltagskleidung, die er während seiner dreijährigen Arbeit im Polizeiarchiv als ausreichend erachtet hatte. Bald würde er einen zweiten Anzug anschaffen müssen, um den alten, liebgewonnenen zu schonen. Da ihm Ware von der Stange meist nicht passte, graute ihm bereits vor der Anprobe.
Schwan besaß einen ganzen Schrank voller Anzüge. Inzwischen trug er sie nur noch, wenn es unbedingt nötig war.
Die Tür schloss sich.
»Mussten Sie lange warten?« Raupach stellte zwei Kunststoffbecher auf den Schreibtisch. Er legte einen Aktenordner daneben und setzte sich.
»Nicht der Rede wert«, gab Schwan lächelnd zurück.
Raupach konnte kaum glauben, wie einfach es am Ende gewesen war. Ein glücklicher Zufall. Nachdem die Fahndungsmeldung von den Radiosendern übertragen worden war, hatten sie von einem Autofahrer per Handy einen Hinweis bekommen.
Warum war es nicht immer so? Ein aufmerksamer Bürger fuhr auf einen Parkplatz und verständigte die Polizei. Meistens dachten die Leute, der Staat funktioniere auch ohne sie. Man zahlte seine Steuern, und das war’s, all inclusive, innere Sicherheit, Gefahrenabwehr, Strafverfolgung, wie bei der Müllabfuhr.
Bei Johan Land, dem tragischen Brandstifter, den Raupach vor einiger Zeit gefasst hatte, war Köln ein Dschungel gewesen, in dem man jederzeit von der Bildfläche verschwinden konnte. Kaum jemand hatte etwas von Lands Flucht gesehen oder gehört. Der Mann war überaus nüchtern und überlegt vorgegangen, nach einem genau vorgezeichneten Plan. Er hatte sich mit dicken Wintersachen getarnt.
Bernhard Schwan hatte dagegen nichts unternommen, um seine
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