Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
aussaugte, während Schaalman schrumpfte und verschwand. Er sammelte alle Kraft, die er noch hatte, und hoffte, dass sie reichte. Als Salehs Kraft aufgebraucht war, meinte er, einen langen, gepeinigten Schrei zu hören, den Lärm von seit tausend Jahren aufgestautem Zorn. Das Gefängnis aus Kupfer hatte seinen neuen Insassen aufgenommen.
Epilog
A n einem frischen sonnigen Septembermorgen verließ das französische Dampfschiff
Gallia
den Hafen von New York Richtung Marseille mit zwölfhundert Passagieren im Zwischendeck. In Marseille würden viele auf kleinere Schiffe umsteigen, die Häfen in Europa und jenseits davon anliefen – Genua und Lissabon, Kapstadt, Kairo, Tanger. Die Gründe für ihre Reise waren so unterschiedlich wie ihre Ziele: Sie wollten Geschäfte tätigen, Abschied nehmen von einem sterbenden Elternteil, eine Braut für die Neue Welt abholen. Die bevorstehende Heimkehr machte sie nervös, sie sahen Veränderungen in den Gesichtern ihrer Angehörigen voraus und eigene Veränderungen, die sie in den Mienen ihrer Lieben würden ablesen können.
In einer Koje lag ein Mann, der auf der Passagierliste als Ahmad al-Hadid geführt wurde. Er war nur mit einem kleinen Koffer an Bord gegangen. Begleitet wurde er von einem vielleicht sieben- oder achtjährigen Jungen. Irgendwie merkte man den beiden an, dass sie nicht Vater und Sohn waren – vielleicht weil der Mann so formell und behutsam mit dem Jungen sprach, als wäre er nicht sicher, wie man mit einem Kind umgeht. Doch der Junge wirkte zufrieden und nahm die Hand des Mannes, als sie sich der Gangway näherten.
Der Mann gab seinen Koffer nicht aus der Hand und verstaute ihn an Bord unter seiner Koje. Er öffnete ihn nur selten, um ein frisches Hemd herauszuholen oder den Schiffsfahrplan nach Beirut zu konsultieren, und dann hätte man vielleicht einen Blick auf einen dünnen Stapel alter Papiere und den runden Bauch einer gewöhnlichen kupfernen Ölflasche erhaschen können.
Es war eine kalte, stürmische Überfahrt. Der Mann lag Tag und Nacht in seiner Koje, in Decken gewickelt, um die Feuchtigkeit abzuwehren, und versuchte, nicht an die endlose Wasserfläche jenseits des Schiffsrumpfs zu denken. Der Junge schlief in der Koje neben seiner. Tagsüber saß er neben dem Mann und spielte mit den hübschen Figürchen aus Blech, die ihm den Neid aller anderen Kinder im Zwischendeck einbrachten. Irgendwann legte er die Figuren beiseite und holte ein kleines verblasstes Foto einer älteren Frau in einem dunklen Kleid und mit dichten grauen Locken heraus. Es war seine Großmutter, bei der er leben würde. Sie hatte das Foto geschickt, damit er sie am Kai erkennen würde. »Du hast ihre Augen«, sagte der Mann, der dem Jungen über die Schulter schaute. »Und ihre Locken.« Er lächelte.
Der Junge lächelte ebenfalls, doch dann betrachtete er zweifelnd wieder das Bild. Der Mann holte eine Hand unter der Decke hervor und legte sie dem Jungen auf die schmale Schulter.
Fünf Tage, nachdem sie New York verlassen hatten, ging der Mann ein einziges Mal an Deck. Eine Weile schien die Sonne, und ein paar Minuten lang saß er auf einer Bank mit dem Koffer auf dem Schoß, und schaute hinaus auf den aufgewühlten stahlfarbenen Ozean. Das Schiff fuhr in eine Welle, und Gischt spritzte auf die Reling. Der Mann schauderte und kehrte in das Zwischendeck zurück.
Das Schiff von Marseille nach Beirut war klein und überfüllt, aber die Fahrt war kürzer und das Wetter besser. In Beirut gingen sie von Bord, und er sah zu, wie die Großmutter dem Jungen ein Stück Schokolade gab, bevor sie sich hinkniete und ihn in die dünnen Arme schloss.
Es war Zeit, Abschied zu nehmen. Der Junge hielt sich an ihm fest, Tränen in den Augen.
»Lebwohl, Matthew«, flüsterte der Dschinn. »Vergiss mich nicht.«
Von Beirut fuhr er mit dem Zug über die Berge ins geschäftige Damaskus, wo er einen Kameltreiber anheuerte, der ihn bis über die grüne Oase Ghuta hinaus in die Wüste brachte. Der Treiber, der glaubte, der Mann wollte nur einen Ausflug machen, war entsetzt, als sein Kunde darauf bestand, dass er ihn mit seinem Koffer am Rand der Wüste allein lassen sollte. Der Dschinn verdoppelte die Bezahlung und versicherte ihm, dass alles in Ordnung sei. Schließlich ließ der Kameltreiber ihn allein. Als er es sich eine Stunde später anders überlegte und zurückkehrte, um den Mann zu holen, fand er keine Spur mehr von ihm. Die Wüste hatte ihn verschluckt.
Im Central Park begann das
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