Gone Girl - Das perfekte Opfer: Roman (German Edition)
Bar zuging, schaute ich die Straße hinunter und sah den Fluss. Das habe ich schon immer an unserer Stadt geliebt: dass sie nicht auf einer sicheren Anhöhe gebaut ist, von der man über den Mississippi blickt – nein, wir befinden uns direkt am Mississippi. Man kann einfach die Straße runterspazieren und landet am Wasser, ein kleiner Abhang, nicht mal einen Meter hoch, und schon ist man unterwegs nach Tennessee. In der Innenstadt sind Striche an den Gebäuden, die zeigen, wie hoch der Wasserpegel bei der jeweiligen Überschwemmung war – bei der von 61, 75, 84, 93, 07, 08, 11. Und so weiter.
Jetzt gab es kein Hochwasser, aber der Fluss floss schnell, mit starken, ungleichmäßigen Strömungen und Wirbeln. Eine lange Reihe von Männern ging im Gänsemarsch am Ufer entlang, die Augen zu Boden gerichtet, die Schultern angespannt, marschierten sie unerschütterlich ins Nirgendwo. Plötzlich blickte einer von ihnen auf und sah mich an, das Gesicht im Schatten, ein schwarzes Oval. Ich wandte mich rasch ab.
Auf einmal überfiel mich der heftige Drang, mich ins Haus zu verziehen. Kaum fünf Meter weit war ich gekommen, als mein Hals schon schweißnass war – noch immer war die Sonne ein wütendes Auge am Himmel. Man sieht dich.
Meine Eingeweide verkrampften sich, und ich ging schneller. Ich brauchte einen Drink.
Amy Elliott
8. Januar 2005
Tagebucheintrag
Tra und lala! Ich lächle ein Lächeln, so breit wie das eines adoptierten Waisenkinds, während ich das hier schreibe. Peinlich, dass ich mich so sehr freue, wie ein knallbunter Technicolor-Comic von einem Teenager-Mädchen am Telefon, die Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, eine Sprechblase über dem Kopf: Ich hab einen Jungen kennengelernt!
Aber genau das ist passiert. Das ist die fachliche, empirische Wahrheit. Ich habe einen Jungen kennengelernt, einen tollen, gutaussehenden Kerl, einen witzigen, coolen Typen. Ich will die Szene beschreiben, weil sie es verdient, für die Nachwelt festgehalten zu werden (nein, bitte, so abgedreht bin ich nicht. Nachwelt, pah). Aber trotzdem. Es ist nicht Neujahr, aber das Jahr ist noch ziemlich neu. Winter, früh dunkel, saukalt.
Carmen, eine ziemlich neue Freundin – eine Halbfreundin, eine Kaum-Freundin, die Art Freundin, der man nicht absagen kann –, hat mich überredet, mit nach Brooklyn zu fahren, zu einer ihrer Journalisten-Partys. Also, ich mag Partys mit Schreiberlingen, ich mag Leute, die schreiben, ich bin das Kind von zwei Autoren, ich schreibe selbst. Noch immer liebe ich es, dieses Wort – AUTORIN – zu kritzeln, jedes Mal, wenn auf einem Formular, einem Fragebogen, einem Dokument nach meinem Beruf gefragt wird. Na gut, ich verfasse bloß Persönlichkeitstests, ich schreibe nicht über die großen Ereignisse des Tages, aber ich denke, es ist trotzdem angemessen, mich Autorin zu nennen. Ich benutze dieses Tagebuch, um besser zu werden, an meinem Talent zu feilen, Details und Beobachtungen zu sammeln. Um zu zeigen, ohne zu erzählen und diesen ganzen anderen schriftstellerischen Mist. (»Ich lächle wie ein adoptiertes Waisenkind«: ich meine, das ist doch echt nicht schlecht, oder?) Aber mal im Ernst, ich finde wirklich, dass allein meine Tests mich qualifizieren, zumindest auf einer ehrenamtlichen Basis. Oder etwa nicht?
Bei einer Party bist du umgeben von echt talentierten Journalisten, die bei profilierten, angesehenen Zeitungen und Zeitschriften arbeiten. Du selbst schreibst nur für Frauenmagazine. Wie reagierst du, wenn jemand dich fragt, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst?
Du wirst verlegen und sagst: »Ich schreibe bloß diese Tests, albernes Zeug.«
Du gehst in die Offensive: »Also, ich bin zurzeit Journalistin, aber ich spiele mit der Idee, mal was anderes zu machen, was mich mehr fordert und ausfüllt. Warum, was machen Sie denn?«
Du verkündest voller Stolz: »Ich hab einen Master in Psychologie und schreibe wissenschaftliche Persönlichkeitstests. Ach ja, und nebenbei bemerkt bin ich witzigerweise auch noch die Inspiration für eine beliebte Kinderbuchserie, die kennen Sie bestimmt. Amazing Amy? « Tja, dagegen kannst du nicht anstinken, du bescheuerter Snob, was?
(Antwort: C, unbedingt C.)
Jedenfalls wird die Party von einem von Carmens Freunden veranstaltet, der Filmbesprechungen für eine Kinozeitschrift schreibt und Carmen zufolge sehr witzig ist. Eine Sekunde lang mache ich mir Sorgen, dass sie uns verkuppeln möchte: Ich bin nämlich definitiv nicht daran
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