GONE Lügen
wissen? Könnte er sonst je wieder vergessen, dass ihr Mund dieses Fleisch berührt hatte?
»Wozu tun wir uns das alles an, Caine?«, fragte Diana. »Warum legen wir uns nicht einfach hin und sterben? D u … du könntes t …«
Der Blick, mit dem sie ihn ansah, löste Übelkeit in ihm aus. »Nein, Diana. Ich mach das nicht.«
»Du würdest mir einen Gefallen tun.«
»So was darfst du gar nicht denken. Wir sind noch nicht am Ende.«
»Ja, tolles Leben. Ich würde echt was versäumen.«
»Du darfst mich nicht verlassen.«
»Wir gehen alle weg, Caine. Früher oder später. In die Stadt, um einer nach dem anderen umgelegt zu werden. Oder wir bleiben hier und verhungern. Oder steigen aus, sobald wir die Chance erhalten.«
»Ich habe dir das Leben gerettet«, sagte er leise und hasste sich dafür, dass er bettelte. »Ic h …«
»Du hast einen Plan«, wechselte Diana spöttisch das Thema. Ihre Überheblichkeit gehörte zu den Dingen, die er an ihr liebte.
»Ja«, antwortete er. »Ich habe einen Plan.«
»Der auf einer absurden Geschichte basiert, die dir die Wanze aufgetischt hat.«
»Mehr hab ich nicht, Diana. Das und dich.«
Sam strich durch die stillen Straßen. Die Geschichte mit Orsay ließ ihm keine Ruhe, das Gespräch eben mit Astrid in seinem Zimmer aber auch nicht.
Warum hatte er ihr nicht von Orsay erzählt? Weil Orsay dasselbe sagte wie Astrid?
Lass los, Sam. Hör auf, es allen recht machen zu wollen. Hör auf, den Helden zu spielen.
Er musste Astrid davon erzählen. Und sei es nur, damit sie dem Spuk mit Orsay auf den Grund ging.
Nur ganz so simpel war es nicht, oder? Astrid war nicht nur seine Freundin. Sie war auch die Vorsitzende des Stadtrats, dem er offiziell Bericht erstatten musste. Daran musste er sich aber erst gewöhnen. Astrid wollte Gesetze und ein System, sie wollte, dass alles nach Regeln ablief. Bloß hatte Sam über Monate alle Entscheidungen mehr oder weniger im Alleingang getroffen. Nicht weil er das so gewollt hatte, sondern weil es sich so ergeben hatte.
Neuerdings trafen andere die Entscheidungen. Das entlastete ihn zwar, war aber auch frustrierend. Denn während Astrid und die anderen im Rat damit beschäftigt waren, die Gründerväter und Gründermütter der FAYZ zu spielen, streute Zil weiterhin seine Hassparolen unter die Leute und niemand hinderte ihn daran.
Das Erlebnis am Strand hatte ihn verwirrt und im Innersten erschüttert. Bestand auch nur der Hauch einer Möglichkeit, dass Orsay Kontakt zur Außenwelt hatte?
Ihre Kraf t – die Fähigkeit, die Träume anderer zu betreten und sie mitzuerlebe n – stand außer Frage. Sam hatte sie selbst in seinen Träumen gesehen. Und er hatte sie eingesetzt, um ihren größten Feind, den Gaiaphage, auszuspionieren, bevor sie das Ungeheuer in der Mine vernichtet hatten.
Aber das hier? Die Behauptung, sie könne die Träume der Menschen außerhalb der FAYZ sehen?
Sam blieb mitten auf der Plaza stehen und blickte sich um. Auf den einst gepflegten Grünflächen wucherte Unkraut und alles war mit Glasscherben übersät. Die Fensterscheiben, die nicht in der großen Schlacht zu Bruch gegangen waren, waren Zils Hooligans zum Opfer gefallen. Aus dem Brunnen quoll Müll. Hier waren sie von den Kojoten angegriffen worden. Hier hatte Zil versucht, Hunter zu lynchen, weil Hunter ein Freak war.
Die Kirche war eine Ruine, das Apartmenthaus abgebrannt. Die Fassaden der Gebäude und die Treppe zum Rathaus verschwanden unter Graffiti, manche von ihnen harmlose Liebeserklärungen, die meisten jedoch hasserfüllte Hetzparolen.
In keinem der Fenster brannte Licht. Die Eingänge lagen im Schatten. Der McDonald’s, den Albert eine Zeit lang in einen Club verwandelt hatte, war geschlossen. Ohne Strom keine Musik.
Hatte Orsay wirklich die Träume seiner Mutter gesehen? Hatte sie im Traum tatsächlich mit Sam gesprochen? Etwas gesehen, was ihn betraf und was ihm selbst entgangen war?
Warum tat ihm dieser Gedanke so weh?
Sam wurde bewusst, wie gefährlich das war. Wenn andere Kids Orsay so sprechen hörten, wie würden sie reagieren? Wenn es ihn schon so fertigmacht e …
Er musste mit Orsay reden. Sie musste damit aufhören. Sie und ihre Helferin. Wenn er Astrid und dem Rat davon erzählte, würde sich die Geschichte wie ein Lauffeuer verbreiten. Nein, besser er sprach mit Orsay und machte ihr klar, dass sie keine falschen Hoffnungen wecken durfte.
Wie Astrid die Geschichte im Rat behandeln würde, konnte er sich lebhaft ausmalen.
Weitere Kostenlose Bücher