Totenzimmer: Thriller (German Edition)
FREIBURG, OKTOBER 2009
Als ich das Bewusstsein verlor, wurde alles schwarz.
Beim Aufwachen war dann alles weiß. Wände, Decke, Nachttisch, Bettzeug: weiß wie Kreide. Nur der dünne Schlauch, der aus der Kanüle in meiner Hand schräg nach rechts oben zu dem Gestell führte, an dem die dunkelrote Blutkonserve hing, aus der ich tröpfchenweise versorgt wurde, glänzte gelblich fahl.
Von der anderen Seite der Tür drangen leise Geräusche zu mir herein. Hektische Betriebsamkeit, fremde Laute aus einer anderen Welt: leichte, schnelle Schritte, gedämpfte Stimmen, weit entfernt; Türen, die sanft geöffnet oder geschlossen wurden. Dann auf einmal etwas Metallisches, das schnell und schwer an meiner Tür vorbeischepperte, gefolgt von etwas lauteren, schnellen Schritten. Dann versank die Welt dort draußen wieder in Watte, alles wirkte weit weg und gedämpft.
Ich lag da wie betäubt, auf einer vollkommen flachen Matratze und spürte meinen Körper, schmerzlos, ohne Gefühle, bloß wie etwas Schweres, Weiches.
Zuerst wusste ich nicht, wo ich war, doch dann rollten die Bilder heran, langsam und leise, eines nach dem anderen, bis ich zum Schluss alle zu einer Sequenz zusammensetzen konnte, die Sinn ergab. Ich vermutete, dass die Polizei irgendwann kommen würde, um mit mir zu sprechen, und ich wusste, dass ich mir bis dahin Gedanken machen musste, was ich ihnen sagen sollte. Aber jetzt konnte ich das nicht. Stattdessen starrte ich die weiße Wand an und dachte über meine Entscheidungen nach, die mich an diesen Punkt geführt hatten.
Auf der einen Seite waren die guten Entscheidungen, die mir das Überleben gesichert hatten. Dass ich mich im letzten Moment doch noch dazu entschlossen hatte, nicht zu sterben. Dass ich immer daraufbestanden hatte, die Leichen selbst zu öffnen. Ich hatte dadurch Kraft in Händen und Armen, so dass mir das Skalpell willig und vertraut gehorchte.
Auf der anderen Seite gab es Entscheidungen, die ich bereute: allem voran, dass ich die Stelle am Rechtsmedizinischen Institut in Odense angenommen hatte. Außerdem konnte ich einfach nicht begreifen, warum Nkem die Warnung, die ich voriges Jahr an jenem Maitag im Zoo erhalten hatte, nicht verstanden, sondern nur darüber gelacht hatte. Gelacht. Natürlich, sie war Christin und hoch gebildet, aber trotzdem war sie eine rabenschwarze Frau, deren Mutter Pülverchen benutzt und Geister gesehen hat und die inmitten eines vom Aberglauben geleiteten Volkes aufgewachsen war. Ebenso wie Mangelernährung, die sich über Generationen hinweg in die menschlichen Züge gräbt und Hungerformen entwickelt, glaubte ich daran, dass auch der über Generationen kultivierte Aberglaube physisch aufgenommen wurde und von keiner weltlichen Lehre jemals ausradiert werden konnte. Nkem aber lachte nur, als das Brotmesser durch meine Hand schnitt und das Blut ins Gras tropfte; sie lachte und sagte, das hätte ich absichtlich getan, damit sie bliebe.
KOPENHAGEN, 2008
1
Nkem hatte selbstgezogene Gurken und Tomaten mitgebracht, und ich hatte Brot und Brotmesser in meiner Tasche. Wir hatten uns auf einer kleinen Anhöhe niedergelassen und blickten über die weite hügelige Landschaft mit ihren vereinzelten Bäumen. Das alles war an einem Samstag im Mai gewesen, vor etwas über einem Jahr. Wir waren im Zoo, es war warm, und die Luft summte vor winzigen, kaum sichtbaren Fliegen, die den ganzen Körper jucken ließen. Nkem hatte die Stelle als Chemikerin in der Rechtsmedizin von Odense bekommen und wollte bereits am nächsten Tag umziehen, damit sie am Montag ausgeruht mit der Arbeit beginnen konnte. Es war unser Abschiedspicknick, und das Ganze fühlte sich so fürchterlich falsch an.
Keine von uns hatte gefrühstückt, und Nkem hatte solchen Hunger, dass sie, kaum dass wir auf der Decke saßen, auch schon den warmgeräucherten Lachs aus ihrer Tasche holte. Dann legte sie den Kopf zur Seite: eine ungeduldige, kaum sichtbare Bewegung, begleitet von einem fast tonlosen, aber dennoch kommandierenden Tsk-Laut. Gehorsam schob ich meine Hand in die Tasche, um das Brot zu holen, griff aber in die Klinge des Brotmessers, das ich gerade erst beim Schuhmacher hatte schleifen lassen. Der Stahl fuhr durch die Schwimmhaut zwischen Zeigefinger und Daumen und drückte sich bis auf den Knochen, so dass die Hand, als ich sie wieder aus der Tasche zog, rot und nass war. Für mich war das ein weiterer Beweis für meine Ungeschicklichkeit, und so saß ich nur wie gelähmt da und
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