GONE Lügen
nicht, die Tränen schnürten ihm die Kehle zu.
Nerezza zog ihn an sich und tröstete ihn.
»Sie warten«, sagte Orsay. »Hinter der Wand. So viel e … so viel e …«
»Die Prophetin kommt morgen wieder«, beruhigte die Helferin die kleine Gruppe und zog Conrad auf die Beine. »Geht jetzt. Geht!«
Die Leute erhoben sich widerwillig. Sam wurde bewusst, dass sie in seine Richtung kamen. Das Lagerfeuer stürzte in sich zusammen und versprühte einen Funkenschauer.
Er verschwand im Schatten einer Felsspalte. In dieser Felswand gab es keinen Quadratzentimeter, den er nicht wie seine eigene Hosentasche kannte. Francis, Brad, Conrad und die anderen stapften durch den Sand an ihm vorbei, stiegen den Pfad hinauf und verloren sich in der Dunkelheit.
Erst jetzt kletterte die sichtlich erschöpfte Orsay von dem Felsen. Als die beiden Mädchen an ihm vorbeigingen, stützte sich Orsay auf den Arm der Helferin, doch auf einmal blieb sie stehen und blickte Sam direkt an, obwohl er überzeugt war, dass sie ihn unmöglich sehen konnte.
»Sam, ich habe sie im Traum gesehen«, flüsterte Orsay.
Sams Mund wurde staubtrocken. Er schluckte. Er wollte nicht fragen, konnte aber nicht anders.
»Meine Mom?«
»Sie träumt von dir und sie sag t … sie sag t …« Orsay sackte wieder zusammen und wäre gestürzt, hätte die Helferin sie nicht aufgefangen.
»Sie sagt: ›Lass sie gehen. Sam, lass sie gehen, wenn ihre Zeit kommt.‹«
»Wie meinst du das?«
»Sam, es kommt der Moment, in dem die Welt keine Helden mehr braucht. Und dann weiß der wahre Held, dass er genug getan hat und abtreten muss.«
Zwei
66 Stunden, 47 Minuten
»Hush-a-bye, don’t you cry,
Go to sleepy you little baby.
When you wake, you shall have cake,
And all the pretty little horses.«
Wahrscheinlich war das schon immer ein schönes Schlaflied, dachte Derek. Wahrscheinlich trieb es einem auch dann Tränen in die Augen, wenn normale Menschen es sangen.
Dereks Schwester Jill war aber kein normaler Mensch.
Schöne Lieder konnten einen alles vergessen lassen und an einen magischen Ort versetzen. Aber wenn Jill zu singen anfing, spielten der Text und die Melodie überhaupt keine Rolle. Auch wenn sie das Telefonbuch rauf und runter gesungen hätte oder eine Einkaufsliste, hätte sie jeden mit ihrer lieblichen Stimme tief berührt.
Im Moment wollte er nur noch einschlafen, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als all die hübschen kleinen Pferdchen. Solange sie sang, war das sein einziger Wunsch. Als hätte er sich nie etwas anderes gewünscht.
Derek hatte dafür gesorgt, dass die Fenster geschlossen waren, denn immer wenn die Leute Jills Gesang hörten, strömten sie in Scharen herbei. Sie konnten gar nicht anders.
Jill war erst neun Jahre alt. Sie hatte nie Gesangsunterricht genommen oder sich musikalisch hervorgetan. Doch vor etwa einer Woche hatte sie aus heiterem Himmel zu singen begonnen. Bloß eine Melodie, die Titelmelodie einer Kinderserie. Jills Gesang hatte ein seliges Grinsen auf sein Gesicht gezaubert und ein unbeschreibliches Glücksgefühl in ihm ausgelöst. Als sie schließlich verstummt war, war es ihm vorgekommen, als wäre er gewaltsam aus dem schönsten aller Träume geworfen worden, um in der grauen und schrecklichen Wirklichkeit der FAYZ aufzuwachen.
Derek war sehr bald klar geworden, dass das nichts mit Begabung zu tun hatte, sondern dass seine kleine Schwester zum Freak mutiert war.
Im ersten Moment war er fürchterlich erschrocken. Derek war normal. Die Freak s – Leute wie Dekka, Brianna oder Orc, doch vor allem Sam Templ e – machten ihm Angst. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft, verdankten ihre Macht ihren Mutantenkräften und konnten tun und lassen, was sie wollten.
Obwohl, die meiste Zeit verhielten sich die Freaks fair. Ihre Kräfte setzten sie eigentlich nur dann ein, wenn es wirklich nötig war. Aber Derek hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Sam Temple und dieser andere Megafreak Caine Soren sich bis aufs Blut bekämpft hatten. Auf der Plaza war es zu einem regelrechten Inferno gekommen, bei dem die Kirche und mehrere Häuser zerstört wurden. Er hatte ihnen aus einem Versteck zugesehen und Todesängste ausgestanden.
Inzwischen waren viele überzeugt davon, dass die Freaks sich für etwas Besonderes hielten und immer das beste Essen bekamen. Jedenfalls war noch kein Freak dabei beobachtet worden, dass er vor Hunger Rattenfleisch verschlang. Oder Käfer. Als es besonders schlimm gewesen war, hatten er und
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