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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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IWANOWO
    Ich wünschte, meine Mutter käme aus Leningrad, aus der Welt Puschkins und der Zaren, granitener Ufer und schmiedeeiserner Geländer, perlmutterfarbener Kuppeln, die den niedrigen Himmel stützen. Leningrads Kultiviertheit hätte sie gleich beim ersten Atemzug angesteckt, und all die gewölbten Fassaden und erhabenen Brücken, die seit über zwei Jahrhunderten in der feuchten, salzigen Luft der Stadt marinierten, hätten sie mit ihrer Finesse nachhaltig geprägt.
    Aber so war es nicht. Sie kam aus der Provinzstadt Iwanowo in Zentralrussland, wo in der Küche Hühner lebten und unter der Treppe ein Schwein hauste, wo die Straßen ungepflastert und die Häuser aus Holz gebaut waren. Sie kam von da, wo man die Teller ableckt.
    Drei Jahre vor Russlands Wandlung zur Sowjetunion geboren, wurde meine Mutter zu einem Ebenbild meines Mutterlandes: herrisch, wachsam, schwer zu verlassen. Unsere Wohnung war der Sitz des
Politbüros
, meine Mutter dessen ständige Vorsitzende. Sie präsidierte in unserer Küche mit der Kelle in der Hand über einem Topf Borschtsch und befahl uns mit derselben Stimme, die ihre Anatomiestudenten erschauern ließ, zu essen. Als Überlebende der großen Hungersnot, der Schreckensherrschaft Stalins und des Großen Vaterländischen |8| Krieges, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, kontrollierte und überwachte sie alles. Was sie durchgemacht hatte, sollte uns erspart bleiben. Sie schützte uns mit fester Umarmung vor Gefahren, Erfahrungen, ja vor dem Leben selbst, einer Umarmung, die uns den Atem benahm und uns ahnungslos ließ.
    Sie befehligte Ausflüge zu unserer verfallenden Datscha   – unter den baltischen Wolken, bei strömendem Regen   –, um dort zu pflanzen, Unkraut zu jäten, zu ernten und alles einzumachen, was auch immer unter der raren Sonne gedieh, die nie hinter dem Schweinestall des Nachbars zum Vorschein kam. Während der kurzen nordischen Sommer wateten wir durch einen Sumpf zu den seichten Fluten des Finnischen Meerbusens, die so lauwarm und gelblich waren wie dünner Tee; wir sammelten im Moos des Waldes eimerweise Pilze und ließen sie über dem Ofen, auf einem Faden aufgereiht, für den Winter trocknen. Meine Mutter plante, beaufsichtigte und kommandierte, schleppte Wassereimer zu Gurkenbeeten und stellte sich in endlose Schlangen für den Zucker zum Einwecken des Obstes an, mit dem wir im Winter unsere Erkältungen behandelten. Im September waren wir wieder zurück in der Stadt und suchten im Schrank nach Stachelbeermarmelade, um meinen Husten zu kurieren, oder nach Johannisbeersirup, um den Blutdruck meines Vaters zu senken. Die Zeit für Ansprachen des Obersten Sowjets, mit Wolle gefütterte Mäntel und Vorbereitungen für das Umgraben im nächsten April war wieder gekommen.
    Hätte ich nicht jeden Sonntag im Frühling bis zu den Knöcheln in kaltem Schlamm gesteckt, wäre ich vielleicht für den dekadenten Klang der englischen Sprache, die aus den Rillen einer Schallplatte mit dem Titel ›Audio-Lingual Drills‹, dem ganzen Stolz meiner Lehrerin, ertönte, weniger empfänglich |9| gewesen. Womöglich hätte ich Medizin studiert wie meine Mutter oder Ingenieurwesen wie alle anderen. Womöglich hätte ich sogar einen Russen geheiratet.
    Hätte ich den Begriff
intelligenzija
mit ihrer üppigen Figur in einem Polyesterkleid der Marke
Bolschewikin
in Verbindung bringen können, wäre es mir vielleicht erspart geblieben, in einer Aeroflot-Maschine nach Amerika zu entfliehen, in der Hand einen Pass mit meinem verschreckten Konterfei, auf dem Tisch des KG B-Beamten ein durchwühlter Koffer mit zwanzig Kilo von dem, was einst mein Leben ausgemacht hatte.
     
    Mein Großvater Konstantin Iwanowitsch Kusminow war Bauer. Die Gräfin, der sein fünfhundert Werst von Moskau auf dem Steilufer der Wolga gelegenes Dorf gehörte, gewährte ihm, da sie wegen der Jahrhunderte währenden Leibeigenschaft von Schuldgefühlen geplagt wurde, ein Stipendium für ein Ingenieurstudium. Meine Großmutter war die Tochter eines Fabrikbesitzers in der Textilstadt Iwanowo, wo die meisten männlichen Dorfbewohner arbeiteten. Sie heirateten zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges und fünf Jahre, bevor die Bolschewiken den Winterpalast stürmten und im Land der Bürgerkrieg losbrach.
    Als die altruistische Gräfin im Jahre 1918 mit Scharen verängstigter Adliger von der Krim in Richtung Türkei segelte, hatten meine Großeltern bereits drei Kinder, meine Mutter und ihre

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