Goodbye Leningrad
Kriegstrauungen, deren Flugbahnen binnen weniger Monate erloschen.
Ihren ersten Mann verdankte sie dem kurzen Krieg von 1939 zwischen der Sowjetunion und Finnland, in dessen Verlauf er mit Granatsplittern im Allerwertesten auf ihrem O P-Tisch gelandet war.
»Was für eine Art, eine Kugel aufzuhalten«, sagte ihre einstige Kommilitonin Wera, die in dasselbe Krankenhaus abkommandiert worden war.
Meine Mutter schlitzte das Hinterteil ihres späteren Ehemannes auf und zog etliche Metallteile daraus hervor, bis auf einen Splitter gleich neben dem Hüftknochen. Sie versuchte ihr Bestes, schnitt und stocherte herum, doch schließlich musste sie aufgeben, ein bleibendes Andenken an ihre erste Begegnung, das tief unter seiner Haut verborgen war.
Er hieß Sascha Gladki, hatte im fernen Leningrad ebenfalls Medizin studiert und scherzte und lachte über seine Verwundung, wobei er die Aufmerksamkeit der weiblichen Krankenhausbelegschaft sichtlich genoss. Meine Mutter, die mit ernster |21| Miene ihre tägliche Runde machte, begutachtete den Heilungsprozess und überprüfte die Nähte. Die Tatsache, dass sie Sascha und dessen Behandlung ganz und gar unter Kontrolle hatte – der Ausdruck seines Gesichts mit den breiten Wangenknochen und dem kleinen Grübchen im Kinn, während sie seine Temperatur maß, die Dankbarkeit, die sie in seinen grauen, tiefgründigen Augen erkannte –, ließ in ihr den Wunsch heranreifen, für immer mit ihm zusammenzubleiben.
»Wetten, dass er mir einen Heiratsantrag macht«, sagte meine Mutter zu Wera mit einem Nicken in Richtung der Tür, hinter der Sascha lag, umgeben von lauter Schwestern. Seit der Operation waren beinahe zwei Wochen vergangen, in ein paar Tagen würde er nach Leningrad zurückkehren.
Sie genoss es, wie Sascha sie beobachtete, wenn sie die Spritzen in kochendem Wasser sterilisierte, und versuchte, einen Plan auszuhecken, um ihn länger dazubehalten. Sie ging auf die fünfundzwanzig zu und wurde allmählich zu alt zum Heiraten. Ihre eigene Mutter hatte mit achtzehn geheiratet, ihre Freundin Wera mit knapp zweiundzwanzig. Das beste Alter zum Kinderkriegen war, wie jedermann wusste, mit zwanzig, und das hatte sie längst hinter sich gelassen.
Zwei Tage nach dem vorgesehenen Termin unterschrieb sie seine Entlassungspapiere. Vor seiner Abreise erwartete Sascha sie auf dem von Disteln überwucherten Gelände hinter dem Krankenhaus, wo er ihr mit verlegenem Lächeln verkündete, das Schicksal habe sie beide zusammengeführt. Er versprach, ihr jede Woche einen Brief und Pralinen zu schicken. »Pralinen!«, staunte Wera. »Wegen der Pralinen würde
ich
ihn auch heiraten.« Ein paar Wochen später traf eine Schachtel ein, auf deren Deckel Peter der Große auf einem sich aufbäumenden Pferd geprägt war, der berühmte Leningrader
Eherne Reiter
. Seit Kriegsausbruch waren Pralinen ganz und gar aus den Läden |22| verschwunden, und die riesige Schachtel erinnerte meine Mutter daran, dass Sascha seine Rettung allein ihrem Einsatz und Können verdankte.
Als der Winterkrieg mit Finnland ein paar Monate später endete, kam Sascha zurück nach Iwanowo, wo die beiden heirateten. Das Heiraten war damals einfach, ein dicker roter Stempel vonseiten des Rathauses auf der dritten Seite ihrer Inlandspässe und die Änderung des Namens meiner Mutter von Kusminowa in Gladki. Vier Tage danach kehrte Sascha nach Leningrad zurück, um dort weiterzustudieren. Er schickte meiner Mutter zunächst einmal wöchentlich, dann einmal monatlich einen Brief. Schließlich kam ein Brief, mit dem sie nicht gerechnet hatte: Er unterstellte ihr irgendwelche Affären, während er über medizinischen Zeitschriften in der Leningrader Bibliothek brüte. Aus anonymer Quelle habe er erfahren, dass seine junge Frau –
strojnaja kak berjoska
, rank und schlank wie eine Birke –, wie er in eiliger, schräger Schrift notierte, nur ein Flittchen sei.
Nach dem anfänglichen Schock war meine Mutter außer sich vor Zorn. Sie griff sogleich nach einem Stift und schrieb Sascha zurück, wenn er das glaube, hätten sie einander nichts mehr zu sagen. Wenn er solch übler Nachrede Glauben schenke, sei Schluss und ihre Ehe somit aufgelöst.
Das meinte sie nicht ernst. Sie wollte lediglich ihrer Empörung und Unzufriedenheit Ausdruck verleihen und rechnete eigentlich mit einer Entschuldigung und einer weiteren Pralinenschachtel. Eine Antwort blieb jedoch aus. Sie wartete zwei Monate und erkundigte sich in einem ungehaltenen
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