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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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die notgedrungen stählernen Schichten zum gewiss doch mitfühlenden Herzen Stalins vorzudringen. »Meine Wohnung ließe sich mithilfe einiger unentbehrlicher Ausrüstungsgegenstände (siehe Liste) ohne Weiteres in eine Entbindungsstation umwandeln. Bitte helfen Sie.«
    Sie war sich unschlüssig, wie sie den Brief unterschreiben sollte, und schwankte zwischen »Genossin«, »Bürgerin« und »Ärztin«. Genossin schien zu aufdringlich: Wie konnte sie eine Genossin der lebenden Legende sein? Bürgerin war zu unpersönlich. Schließlich entschied sie sich für ihren akademischen Titel, der nicht minder befremdlich klang, Dr.   Galina Kusminowa.
    |15| Sie wusste, dass der Brief ein Wagnis war. Wenige Monate zuvor, als sie noch in Iwanowo mit ihren Eltern, ihren Geschwistern und ihrem Onkel zusammenwohnte, hatte es mitten in der Nacht an die Tür geklopft. Es war ein lautes, forderndes Klopfen, wie es nur gegen zwei oder drei Uhr morgens erfolgte, wie es jeder erkannte, auch wenn er es noch nie zuvor gehört hatte. Zwei Männer in schwarzen Mänteln marschierten schnurstracks in das Zimmer, das Onkel Wolja mit seiner Frau Lilja und der fünfzehnjährigen Tochter Anja bewohnte, drehten die Matratzen um, durchwühlten sämtliche Schubladen und verkündeten, Onkel Wolja stehe unter Arrest.
    »Weswegen?«, fragte Tante Lilja mit leiser, bebender Stimme.
    »Sie werden schon sehen«, murmelte einer der Männer.
    Onkel Wolja stand in seinem albernen Flanellschlafanzug mitten im Raum und versuchte, einen Asthmaanfall zu bezwingen. Vornübergebeugt japste er nach Luft, während er die Stirn mit einem Taschentuch betupfte. »Es ist alles ein Irrtum, ein Missverständnis«, flüsterte er, als er allmählich wieder zu Atem kam, das Taschentuch in der zitternden Hand. Die Männer forderten ihn auf, einen Mantel überzuziehen, und führten ihn zu einem schwarzen Transporter, einem sogenannten
woronok
oder schwarzen Raben, der vor dem Haus parkte. Wochen später erfuhr Tante Lilja, dass er offenbar im Rahmen seiner Arbeit in einer Propagandaagentur einen Gast aus Moskau in ein Restaurant ausgeführt hatte. Dort hatte Onkel Wolja neben einem rechtschaffenen Bürger, der vom NKWD   – dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten   – dazu abgestellt war, Unterhaltungen mit Fremden zu belauschen, gesessen und einen Witz zum Besten gegeben.
    Dabei handelte es sich noch nicht einmal um einen politischen Witz.
Zwei Milizionäre werden zur Geburtstagsfeier ihres Genossen Koslow eingeladen. Was wollen wir ihm schenken?,
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fragt der eine. Am besten ein Buch, sagt der andere. Nein, sagt der erste Milizionär. Genosse Koslow hat bereits ein Buch.
    Diesen Witz kannte jeder, aber dieses Mal klang er gar nicht komisch, sondern nur abgedroschen. Warum hatte Wolja überhaupt einen so schlechten Witz erzählt? Meine Mutter wusste, dass er in Gegenwart von Fremden vorsichtiger hätte sein müssen. Überall in der Stadt hingen Plakate von einer Frau mit rotem Kopftuch, die einen Finger vor ihren Mund hielt, und über ihr stand in großen roten Lettern
Ne boltai
: Nichts ausplaudern. Vom Ausplaudern bis zum Verrat war es kein weiter Weg. Dennoch glaubte sie, dass der NKWD sich geirrt hatte. Wie konnte Genosse Stalin einen unschuldigen Mann, ihren lammfrommen Onkel Wolja mit den Hängebacken, verhaften? Alle wussten, dass Genosse Stalin jedem, ob Bauer oder Akademiker, ein angenehmes Leben wünschte.
    Trotzdem konnte sie nicht so schnell vergessen, wie das Taschentuch ihres Onkels gezittert und sein Arm den Ärmel seines Mantels verfehlt hatte, während die beiden Männer alle zehn Bände von Tschechows gesammelten Werken aus dem Regal gerissen, geschüttelt und wütend auf den Boden geworfen hatten, weil sie nichts darin finden konnten.
    Meine Mutter dachte auch an meinen Großvater, der 1921 der Familienüberlieferung zufolge Lenin ein Telegramm geschickt hatte, als ein Zug mit Weizen für die hungernde Bevölkerung von Iwanowo von einer Schwadron Soldaten der Roten Armee mit Gewehren aufgehalten worden war. Es hieß, der Zug habe dank des Telegramms ihres Vaters nach ein paar Stunden weiterfahren dürfen.
    In ihrer Vorstellung passte die Szene, wie Onkel Wolja wegen eines Witzes in den schwarzen
woronok
abgeführt wurde, ein paar Minuten lang nicht so recht zu dem glücklichen Bild der Einwohner von Iwanowo, die dank eines Telegramms vor dem |17| Hungertod bewahrt worden waren. Sie war der festen Überzeugung, Stalin habe nichts von

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