Goodbye Leningrad
zwei jüngeren Brüder. Mit ihrer Verheißung einer Befreiung vom Joch des Absolutismus und eines Paradieses für die arbeitende Bevölkerung schien die Revolution die Hoffnung zu nähren, dass Russland sich auf dem Wege der Besserung befinde, dass Jahrhunderte der Ungleichheit und Sklaverei endlich der Vergangenheit angehörten und Frieden und Wohlstand in greifbare Nähe gerückt seien. Doch bereits im |10| Jahr 1920 wurden die Essensrationen wieder zusehends knapper und das Land von einer Hungersnot heimgesucht, der Auftakt zu sechs Jahrzehnten des Terrors, die sich bereits blutig am Horizont abzeichneten.
Damals erfand meine Großmutter das Brotkrümelspiel. Mit ihren sechs und fünf Jahren waren meine Mutter und ihr Bruder Sima alt genug, um ihre knurrenden Mägen zu ignorieren und sich mit einem Stück Schwarzbrot und einem Zuckerwürfel zufriedenzugeben, doch der dreijährige Juwa, mein Onkel, der 1941 in den ersten Minuten des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion umkommen sollte, ballte die Hände zu Fäusten und brüllte vor Hunger.
»Sieh doch nur, wie viel du hast«, sagte meine Großmutter, während sie eine Scheibe Brot und einen Würfel Zucker mit den Fingern zerbröckelte. »Einen ganzen Berg aus Krümeln.« Meine Mutter und Sima, die älter und weiser waren, tauschten verstohlene Blicke voller Mitleid für ihren kleinen Bruder, der sich so leicht an der Nase herumführen ließ. »Zwei Berge«, sagte meine Großmutter. Juwa hörte auf zu heulen und rieb die Tränen über seine Wangen, zufrieden angesichts dieses vermeintlichen Überflusses, zwei richtige Berge, mehr als der triste kleine Würfel auf den Tellern der anderen, genug Krümel für eine ganze Stunde, während derer er sich genüsslich einen nach dem anderen in den Mund stecken konnte.
Im Jahre 1928 bewohnten sie ein zweistöckiges Holzhaus – meine Großeltern, deren einzige Tochter und mittlerweile drei Söhne sowie Baba Manja, die einfallsreiche, zähe und gütige unverheiratete Schwester meiner Großmutter. Sie änderte abgelegte Kleider für die zu schnell wachsenden Kinder um, hielt drei Küken in der Küche, bis sie von einer Katze verspeist wurden, und sollte später, während einer weiteren Hungersnot nach dem Großen Vaterländischen Krieg, von einem Pferdewagen, |11| der ein paar Minuten lang in ihrer Straße gehalten hatte, das letzte rachitische Ferkel erstehen. Das Schwein lebte fortan unter der Treppe und rettete sie im darauf folgenden Jahr allesamt vor dem Hungertod.
1929 wurde Musa, die jüngere Schwester meiner Mutter, geboren, das fünfte und letzte Kind. »Gott hat uns noch ein Mädchen geschenkt«, verkündete Baba Manja von der Veranda aus, wo sie in der sanften Spätsommerbrise stand und sich die Hände an einer Schürze abwischte. »Gelobt sei die Dreifaltigkeit, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Sie hatte keine Ahnung, dass laut Dekret aus Moskau die Religion für tot erklärt worden war – eine kränkelnde, mutlose Widersacherin, die mit Füßen getreten und erdolcht und schließlich auf den Speicher der zaristischen Vergangenheit verbannt worden war.
»Nicht Gott«, protestierte meine fünfzehnjährige Mutter, die, flankiert von ihren drei jüngeren Brüdern, bis zu den Knien im Löwenzahn stand und meiner Großmutter dabei zusah, wie sie eine mit den Armen fuchtelnde Musa wickelte, die kurz darauf unter Schichten aus alten Leintüchern verschwand. »Unsere Mama hat uns noch ein Mädchen geschenkt.«
»Mögen eure Zungen herausfallen, ihr gottlosen Fuligans!«, schrie Baba Manja, indem sie hastig ein Kreuz schlug. Sie wollte eigentlich »Hooligans« –
huligani
– sagen, konnte aber entweder kein H aussprechen oder wusste nicht, wie es richtig hieß. So wurden meine Mutter und ihre drei Brüder allesamt zu Fuligans, leidenschaftlich und naiv, unbeirrbar und rücksichtslos, inspiriert von einem neuen Gott, zu einer Kreuzung aus Hooligans und Narren.
Im Jahre 1931 steckte meine siebzehnjährige Mutter, die die Hartnäckigkeit und revolutionäre Begeisterung meines Großvaters |12| geerbt hatte, in der Hoffnung, älter zu wirken, ihre dunklen Zöpfe hoch und besuchte ihre erste Vorlesung an der Medizinischen Hochschule von Iwanowo. Das Universitätsstudium war inzwischen kostenlos, allerdings wurden die Kandidaten nicht etwa wegen ihrer Leistungen, sondern aufgrund ihres gesellschaftlichen Status zugelassen: zuerst die Kinder von Arbeitern und Bauern, zuletzt die
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