Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
einsetzen, um klarzustellen, daß Sie nicht an meine mögliche Unschuld glauben. Nein, vielen Dank. Ich habe bessere Chancen, wenn ich mich selbst verteidige. Aber vielen Dank für Ihre Großzügigkeit!« Manasse wartete geduldig das Ende des Ausbruchs ab. Dann sprach er mit großer Aufrichtigkeit zu der Kreatur, die nun in ihrer Wut durch die Zelle strich. »Ich bin zu stolz auf meine Laufbahn, als daß ich so handeln würde, wie Sie vermuten. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, meine Prozesse zu gewinnen. Glauben Sie, ich als menschliches Wesen könnte es ertragen, wenn meine Kollegen anfangen würden zu sagen: >Der alte Manasse läßt nach. Schon jetzt setze ich mich unfreundlichen Kommentaren von einigen meiner besten Freunde aus, indem ich diesen Fall übernehme. Glauben Sie, es fällt einem Juden leicht, seinen Verfolger zu verteidigen? Welche Motive werden die Leute womöglich meiner Entscheidung unterstellen? Sie wissen, ich bin anders. Es ist mir wirklich egal, ob sie mich für verrückt halten, aber ich könnte es nicht ertragen, wenn man mich als unfähig ansähe.« Gargaglia hielt inne in seinem Umherlaufen und hörte zu. »Die Wahrheit ist, daß Gerechtigkeit mich nie so sehr interessierte wie die Toleranz. Ich habe immer verteidigt, falls Sie sich erinnern, und niemals angeklagt. Ich bin von meiner Veranlagung her unfähig anzuklagen. Dafür braucht ein Mann ein hochentwickeltes Gerechtigkeitsgefühl. Ich bin dafür zu emotional. Ich glaube, daß das Recht in allen Ländern ein viel zu grobes Werkzeug ist, um wirkliche Gerechtigkeit herzustellen. Ich hasse das Recht als die kalte, fühllose, unmenschliche Institution, die es ist, immer nur Schwarz und Weiß und ohne Raum für die unendlichen Schattierungen in Grau, die menschliches Verhalten motivieren und gute Menschen dazu bringen, böse Taten zu begehen, und intelligente Menschen zu unglaublicher Dummheit treiben. Aus diesem Grund habe ich oft einen Mann verteidigt, von dem ich wußte, daß er ein Verbrecher war, und ihm mit meiner Begabung die Freiheit geschenkt. Als Jurist bin ich schlecht, aber brillant. Es ist mir gleichgültig, solange ich mir die Qualitäten bewahre, die ich als Mensch besitze, der unter Menschen lebt. Das ist das einzig Wichtige für mich.« Es herrschte Stille in der Zelle. »Wenn Sie wollen, werde ich Sie freibekommen.«
»Warum?« fragte Gargaglia betäubt.
Manasse lächelte. »Es gibt noch Hoffnung für Sie«, sagte er. »Einen Augenblick fürchtete ich, Sie würden mich fragen, >wie<, und nicht, >warum<.«
Manasse erhob sich. »Ich bin gekommen«, fuhr er fort, »um zu sehen, ob Sie verletzlich wären, ob Sie menschlich wären, ob Sie leiden könnten, und ich bin befriedigt. Sie kauerten in einer Ecke, als ich eintrat. Sie hatten Angst. Das war ein gutes Zeichen. Sie versuchten, Ihre Taten zu rechtfertigen, und fanden es unmöglich. Sie haben ein Gewissen, das wieder anfangen wird zu funktionieren, langsam und mühselig, wie ein Kind laufen lernt. Sie weinten, und es geschah nicht nur aus Erschöpfung. Sie sind besserungsfähig, und insofern haben Sie meinen Glauben an die Menschheit ein wenig bestätigt. In diesen Zeiten brauche ich wenigstens jeden Tag eine Bestätigung, bis auch ich anfangen kann, Güte wieder für selbstverständlich zu halten.«
Manasse bewegte sich zur Tür. »Wollen Sie, daß ich Sie verteidige?«
Gargaglia blickte auf den Boden. »Warum machen Sie sich die Mühe?« flüsterte er.
»Warum?« antwortete Manasse. Seine blauen Augen waren jetzt kalt und klar und völlig gefühllos. »Weil es die furchtbarste Rache ist, die ich mir vorstellen konnte – Sie erfolgreich zu verteidigen, und kostenlos.«
Die Zelle war leer. Gargaglia sah sein Leben vor sich ausgebreitet, bis ins Unendliche, jeder Tag eine Zelle, so leer wie diese, in der er sich befand. Er sank auf die Knie, nicht um zu beten, sondern weil das Gewicht seiner Demütigung ihn niederdrückte. Er versuchte wieder zu weinen, aber es waren ihm keine Tränen geblieben. In diesem Moment hätte er jedem Befehl gehorcht, von jedem. Die Salve des Hinrichtungskommandos wäre ein menschenfreundlicher Akt gewesen; aber andererseits ist das Leben häufig grausamer als der Tod, denn es ist reich an Zeit, der Tod nur reich an Schweigen.
Die Einsamkeit von Billiwoonga
Europa besetzt den gleichen Platz im Herzen mancher Europäer wie eine Schule. Geliebt und gleichzeitig gehaßt. Seine Gewohnheiten sind unersetzbar, seine Geheimnisse und
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