Gott wuerfelt doch 1
hielt sich mit
beiden Händen den kugeligen Bauch. Ihre Brüste wogten bei jedem Schlagloch auf
und ab. Ihr Gesicht unter dem toupierten Haar ließ Furcht erraten. Sie
beobachtete meinen Vater sorgenvoll von der Seite, wie er hoch konzentriert den
Wagen steuerte. Vater, der ihren Blick spürte, als würde ihm ein Lufthauch das
Nackenhaar emporheben, wandte sich ihr zu, lächelte, legte die rechte Hand auf
ihr Knie und streichelte sanft ihren Oberschenkel. Mutter nickte fast
unmerklich mit dem Kopf, lächelte zurück, streckte ihren Körper, spitzte zart
den Mund und gab ihm flüchtig einen Kuss auf die Wange.
Er hatte ihn zu spät
bemerkt, wie er dalag: diesen langen, schlanken Baum, den das Wetter gefällt
und ihnen in den Weg geworfen hatte. Überrascht stieß Vater einen Schrei aus.
Mutter hielt sich starr vor Schreck den linken Unterarm vor die Augen und
schrie noch lauter als Vater, der jäh auf die Bremse trat. Er riss das
schweißnasse Steuer nach links, der Wagen schleuderte und prallte mit dem
rechten Kotflügel gegen einen Ast, dass der Scheinwerfer klirrend zerbarst und
der Baum krachte. Mutter und Vater wurden nach vorn geschleudert. Das Lenkrad
warf Vater zurück, nachdem es ihm die Unterlippe blutig geschlagen hatte,
während Mutter mit ihrem Kopf durch die Windschutzscheibe schlug und mit ihrer
rechten Hand noch immer den Bauch umfasste. Sie steckte jetzt mit ihrem Bauch fest
und schrie, nein, sie brüllte. Meinem Vater fuhr Angst in die Knochen. Er
öffnete die Fahrertür, strauchelte draußen um den Wagen herum und nahm ihre
blutüberströmte Hand. „Oh Gott!“, schrie sie. „Was ist mit meinen Kindern?“
„Rita“, stammelte
er, „Rita, es ist alles in Ordnung, es ist nichts passiert!“ Vater streichelte
sie sanft mit Tränen in den Augen, doch er hatte den Verdacht, als er diese
Worte sprach, dass er meiner Mutter vielleicht nicht die Wahrheit hatte sagen
können.
*
Später lag Mutter
auf einer Trage unbequem in dem stickigen Krankenwagen und wimmerte. Sie waren
schnell dort gewesen; ein Bauer hatte den Unfall entdeckt und umgehend die
Rettung alarmiert. Vater hatten die Sanitäter in ihren grauweißen Kitteln trotz
seines Protestes, er sei Arzt, nur gestattet, vorn neben dem Fahrer Platz zu
nehmen. Er drehte sich immer wieder um und beobachtete Mutter durch die schmale
Glasscheibe, die Fahrerkabine und Krankenabteil voneinander trennte.
Wie sie dalag!
Tränen liefen aus ihren rotglühenden Augen über ihre tropfende Stirn, die jetzt
nach unten zeigte, da sie ihren Kopf nach hinten drückte, um Vater sehen zu
können, so dass ihr Kinn grotesk nach oben wies. Ein Sanitäter saß neben ihr
und beobachtete sie streng und stocksteif. Er tat dies weniger so, wie man
einen Menschen ansieht, der leidet, sondern so wie man einen Wecker betrachtet,
der nicht mehr klingelt. Er hatte ein eher technisches Interesse an meiner
Mutter, deren blaues Kleid in Höhe ihres Bauches aufgerissen und mit Blut
getränkt war, ohne dass die Haut nennenswerte Wunden davongetragen hatte. Für
ihn war diese fremde Frau ein Objekt, das man studieren konnte, obwohl er
sicherlich nicht dafür ausgebildet war, einen exakten medizinischen Befund zu
erstellen.
Mutter aber stand
kurz vor einer Panik, denn grenzenlose Angst nagte an ihrem Verstand. Es habe,
so erzählte Mutter mir später, eine halbe Ewigkeit gedauert, bis sie im
Krankenhaus angekommen seien. Und erst, nachdem Vater ein Druckmittel
angewendet habe, sei sie rasch in den Kreißsaal gebracht worden: „Hören Sie,
wir sind unterwegs zur Hochzeit meiner Schwester!“
Na und? Was er
glaube, wie viele Leute täglich in der DDR heirateten? Glaube er etwa, das sei
etwas Besonderes? Erst müssten sie ordnungsgemäß die Personalien aufnehmen. Sie
habe nicht vor, Ausnahmen zu machen, habe die schnodderige Schwester bei der
Anmeldung gezischt.
„Mein zukünftiger
Schwager ist zweiter Vorsitzender der SED in Berlin. Was, glauben Sie, wird er
sagen, wenn er erfährt, dass eine Krankenschwester dafür gesorgt hat, dass die
Schwägerin seiner Braut eine Frühgeburt in der Empfangshalle eines
Krankenhauses hatte?“ Daraufhin wurde Mutter gleich von zwei Helfern auf einen
Rollstuhl gesetzt.
Vater verboten sie
ganz einfach, meine Mutter zu begleiten. Das sei nichts für Männer, sagten sie
ihm. Er sei aber Arzt, hatte er reklamiert. Das mache gar nichts. Hier dürften
eben nur behandelnde Ärzte in den Kreißsaal.
Acht Minuten später
kam ein Mann auf meinen Vater zu
Weitere Kostenlose Bücher