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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Kreutzer
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genau zu wissen, warum. Mutter öffnete langsam das weiße
Klinikhemd, das man ihr angelegt hatte, und versuchte noch ein wenig
ungeschickt, mir ihre Brust zu geben. Mutter und Vater strahlten vor Glück, als
ich gierig dalag und an ihr sog und trank und gluckste.
    „Wie soll er denn
heißen?“, fragte die Krankenschwester meinen Vater. „Ja, wie soll er denn
heißen? Rita, was meinst du? Wir bleiben bei Walter, oder?“ Er wandte sich zu
der Krankenschwester. „Wir wollten sie Walter und Konrad nennen, oder Cornelia
und Sabine oder Walter und Cornelia, je nachdem, was herausgekommen wäre.
Leider gibt es die kleine Cornelia ja nicht mehr.“ Er schluchzte auf.
    „Walter, so wie
unser neuer Staatsratsvorsitzender Ulbricht“, lächelte die Schwester unsicher.
Meiner Mutter schien der Gedanke zu gefallen, denn sie lachte leise, und als
sie lachte, zitterte ihr Busen; ich muss Schwierigkeiten gehabt haben, weiter
zu trinken, denn Mutter weiß heute noch, dass ich nach Luft schnappte und dass
meine Hände sich bei ihr festkrallen wollten. „Na, Walterchen, genug satt?“,
fragte sie mich mit viel Honig in der Stimme. Vater lachte nun mit der
Verklärtheit, die so typisch ist für junge Eltern, die ihr Kind als das
schönste Naturereignis auf der ganzen Welt betrachten. Er hielt uns beide
sicher im Arm, wobei seine rechte Hand sanft die linke Brust meiner Mutter nahm
und sie behutsam streichelte. „Ich liebe dich, Rita, und ich werde alles tun,
um dir Glück zu schenken!“
    Das versprach er
ihr damals, und ich kann sagen, dass er es bis heute jede Minute seines Lebens
versucht hat, mein Vater. Ich glaube, er liebt Mutter heute noch genauso wie
früher. Und Mutter lächelt ihn noch so an, wie sie es wahrscheinlich damals
auch getan hat. Sie waren ein glückliches Ehepaar, ja, das waren sie - bis zu
jenem Tag, als ich verschwand.
    *
    Nun war ich also
auf der Welt, allein gelassen von meinem Zwilling, den ich nie zu sehen
bekommen hatte. Mein Leben lang hat mich das bohrende Rätsel nie losgelassen,
wie es gewesen sein muss, als wir nebeneinander, eng und umschlungen, im
Fruchtwasser unserer Mutter gelegen haben, geborgen im Glück der Wärme und der
Liebe und mit der Selbstverständlichkeit, nie allein gewesen zu sein, seit die
Chromosomen sich zu teilen begonnen hatten.
    Zu meinen frühesten
Erinnerungen zählt, dass meine Eltern jeden zweiten Tag mit mir an das Grab
meiner Zwillingsschwester gingen. Sie hatten das Kind nach meiner Geburt und
ihrem Tod nach Westdeutschland überführen lassen (was sich damals als große
Schwierigkeit erwies, aber Onkel Erwin hatte seinen Einfluss geltend gemacht).
Sie hatten das Kind Cornelia genannt, und obwohl es nie getauft worden war, lag
es in Köln auf einem katholischen Friedhof.
    Mutter stand stets
einige Minuten vor dem Grab und legte im Sommer eine Rose nieder, die sie in
unserem Garten gepflückt hatte; und war sie auch sonst eine Persönlichkeit,
stark und fröhlich, so hatte sie jedes Mal Tränen in den Augen, und wie
selbstverständlich liefen sie auch mir, obwohl ich als kleines Kind sicher
nicht wusste, warum sie liefen. Als ich sie einmal fragte, warum sie weine,
sagte sie, sie sei auch ein Zwilling gewesen, und ihre Schwester sei ebenfalls
gestorben. Mehr wollte sie mir damals nicht preisgeben, und ich konnte nicht
ahnen, welche Wucht sich hinter ihrer Antwort verbarg.
    Mein Zwilling, mit
dem ich den Bauch meiner Mutter geteilt hatte, war zwar tot; aber er schien
dennoch stets mit mir zu sein. Ich habe damals oft mit dem toten Zwilling
geredet. Wenn ich heute darüber nachdenke, war dieses Kind für mich
geschlechtslos; es war kein Junge oder Mädchen, sondern ein Kind wie ich, und
es war mein Freund, dem ich morgens beim Waschen und Zähneputzen und abends vor
dem Einschlafen Ereignisse anvertraute wie einem Tagebuch (vielleicht habe ich
deshalb nie eines geschrieben).
    Ich war gerade fünf
Jahre alt, und es war Sommer. Wir waren in Italien, und Vater fuhr lustig
pfeifend die holprige Straße hinauf und dem Hügel mit dem großen Bauernhaus
entgegen, über dessen Dach die Morgensonne rötlich blinzelte und uns das grelle
Licht und die Hitze des Tages ankündigte. Mutter hatte wie immer ihre Arme
bedeckt, obwohl es bereits ziemlich warm war. Ihre rechte Hand umklammerte den
Haltegriff über der Tür des VW Käfers, dessen Rolldach Vater so weit es ging
nach hinten geschoben hatte. Sie trug ein leichtes Kopftuch, und mir hatte sie
eine meiner geliebten englischen

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