Gott wuerfelt doch 1
Prolog
Vor sieben Tagen
noch verwandelte das Weiß der Wand jeden Gedanken in meinem Kopf zu Schmerz.
Nachdem sie mich endgültig eingesperrt hatten, schrie ich die Mauer
sechseinhalb Stunden lang an, bis meine Stimme erstarb. Danach schlug ich meine
Stirn dreimal dagegen, dorthin, von wo mich jetzt der Blutfleck erbleicht und
fahl anstarrt. Nun stiere ich auf das Papier, das vor mir liegt, und ich habe
beschlossen, es gleichgültig zu finden, ob ich in dieser Zelle stecke oder
irgendwo anders dahinvegetiere. Ich habe inzwischen den Richterspruch
akzeptiert, denn selbst wenn ich frei wäre, könnte ich all das, was geschehen
ist, nicht mehr ungeschehen machen.
Sie haben mich
verurteilt, weil ich, Walter Landes, am 16. Juli 1988, siebenundzwanzigjährig,
angeblich mich, Walter Landes, heimtückisch getötet habe. Mein Urteil lautet:
lebenslänglich. Sie haben sich - aus meiner Sicht - der Unfähigkeit
preisgegeben, denn ich bin der einzige Mensch, der genau weiß, was vorgefallen
ist. Menschen besitzen unterschiedliche Wahrheiten, und die meisten begreifen
die große Wahrheit niemals; doch es reicht aus, wenn in diesem Fall nur ich der
einen Wahrheit gerecht werde, denn sie wird nicht wahrer dadurch, dass mehr
Menschen sie kennen; niemand will mir glauben, und ich bin keinem anderen mehr
Rechenschaft schuldig.
Jetzt sitze ich auf
einem zerkratzten Holzstuhl, an einem kleinen, schäbigen Resopaltisch, einen
Bleistift in der Hand, den ich an seinem Ende zerkaut habe, verurteilt als
Mörder; ein klares Fehlurteil! Denn wäre dem rechtens, so wäre ich der erste
Selbstmörder, der verurteilt wurde.
Ich werde mir nicht
die Qual bereiten, das Fehlurteil aufzuklären. Mein Fall scheint so glasklar,
dass selbst meine Eltern erwägen, ich wäre mein Mörder. Und ich kann sie alle
verstehen, dass sie das glauben. Im Grunde bin ich dankbar dafür, dass jetzt
alles zu Ende gegangen ist, denn das Versteckspiel der letzten Jahre hat mich
aufgefressen, und meine Seele ist dabei allmählich verbrannt.
Den Platz der
Verzweiflung erkämpft sich mehr und mehr die Gleichgültigkeit in meinem Kopf.
Ich werde aufschreiben, wie alles geschehen ist, nicht etwa um Recht zu
erfahren. Nein, die Justiz interessiert mich nicht mehr, die Justiz ist -
faktisch betrachtet - meiner nicht mehr würdig, denn ich habe ein Urteil
provoziert, das es gar nicht geben kann und sie daher in die Absurdität
geführt. Ich hause in dieser Zelle, vom Staatsanwalt angeprangert, von den
Richtern verdammt, von den Menschen verteufelt, von den Medien ausgeweidet und
von der Welt durch den Sumpf der Verachtung gezogen. Es ist im Grunde ein Segen
für mich, gefangen gehalten zu werden, denn wenn ich wieder nach draußen käme,
würde ich die Schmach, die über mich hereinbräche, nicht ertragen können. Und
ich schreibe das alles nur deshalb auf, weil ich mir selbst ein Bild malen
möchte; ein Bild - so schön, so grausam und so schmerzlich - wie es sich in dem
Moment abzuzeichnen begann, als ich ihm zum ersten Mal begegnete.
Teil I: DIE BEGEGNUNG
Während der Jahre
zwischen den beiden großen Kriegen lebte die Familie meines Vaters besser als
die meisten anderen Menschen in Deutschland. Sie wohnte in Bremen und verdiente
ihr Geld mit dem Kaffeehandel.
Bereits als Junge
hatte Vater die Welt kennen gelernt, denn Großvater hatte seine Familie auf
Geschäftsreisen zu den Hochländern der Anden und in die Städte der Türkei
mitgenommen, dorthin, wo die Früchte der besten Kaffeeplantagen zu kaufen
waren, und er hatte dies getan, um Deutschland zu entfliehen, wo sich die
braune Pest breiter und breiter machte. Großvater habe die Nazis gehasst wie
ein Frosch den Stiefel, sagte mir Vater immer wieder, weniger aus politischen
Gründen, sondern weil er als Hanseat der Freiheit verpflichtet gewesen sei. Die
Nazis hätten von ihm, dem Kaffeehändler, gestrenges Denken verlangt; er habe
stets über sie gelacht und betont, Taugenichtse dürften sich nicht erdreisten, herrschen
zu wollen.
Vater ging als
Student nach Göttingen, studierte dort deutsche Geschichte und Philosophie und
sah sich schon bald gezwungen, das Studienfach zu wechseln, weil die
Professoren zunehmend begonnen hatten, Denker und Wissenschaftler wie Charles
Darwin für die Ideen des neuen Regimes zu missbrauchen.
Vater wechselte
also das Studienfach und entschied sich für Medizin. Er ging nach Frankfurt und
spezialisierte sich auf Genetik, ohne zu ahnen, welchen Lehrern er seinen
Intellekt
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