Gott wuerfelt doch 1
und wollte ihn wohl beruhigen nach all dem
Ärger, den er gehabt hatte. Der Mann war mittelgroß, trug eine Nickelbrille,
hatte schütteres Haar und versuchte freundlich zu wirken.
„Guten Tag, Sie
heißen Landes, nicht wahr? Ich bin Doktor Böhler“, sagte der Arzt schmallippig
in sächsischem Tonfall. Er wirkte sehr streng, und seine Mundwinkel zitterten,
wenn er zu lächeln versuchte.
„Sie haben“, meinte
Böhler, „in den Formularen angegeben, Sie sind Mediziner. Ist das richtig?“,
fragte er meinen Vater und deutete mit seiner rechten Hand auf das Blatt, das
er in der Linken hielt. „ Ja, das stimmt, Biomediziner.“
„Dann können Sie
nur der Professor Ewald Landes sein, der sich mit dem Alterungsprozess des
Menschen beschäftigt, nicht wahr?“ Dabei lag in seiner Stimme so etwas wie
stille Bewunderung.
„Genau der bin ich“,
sagte Vater.
Er habe einige
Veröffentlichungen von meinem Vater gelesen. Es seien für seine jungen Jahre
wirklich beneidenswert erkenntnisreiche Arbeiten, staunte Böhler.
Das könne ja sein,
aber ihn interessiere jetzt einzig und alleine, was mit seiner Frau und den
Kindern sei? Habe er „Kindern“ gesagt? Ja, es gebe wohl Zwillinge. Ob er zu ihr
dürfe?
„Nein, leider ist
das strikt gegen unsere Vorschriften. Aber ich will sehen, ob ich Ihrer Frau
helfen kann.“ Der Arzt nickte meinem Vater freundlich zu und wandte sich zum
Gehen.
„Sagen Sie,
Professor Landes, Ihr zukünftiger Schwager heißt Erwin Müller, sagte mir die
Schwester am Empfang?“, habe Böhler gefragt, nachdem er sich noch einmal
umgedreht hatte.
Ja, antwortete
Vater; der Arzt sah zu Boden und nickte, steckte dann die Hände wieder in
seinen weißen Kittel und ging den Flur entlang.
Als Mutter nach
tiefer Erschöpfung aufwachte, hielt mein Vater ihre Hand. Ihr Gesicht war
bleich, und um die Lider lagen dunkle Schatten. Sie brauchte einige Zeit, um
meinen Vater zu erkennen, dann lächelte sie dünn und versuchte zu sprechen.
Vater hob einen Zeigefinger an die gespitzten Lippen, aber Mutter fragte gleich
nach ihren Kindern. Vater machte ein trauriges Gesicht, küsste seine Frau
voller Liebe und sprach so sanft, wie es seine tiefe Stimme gestattete. „Sie
haben einen Kaiserschnitt gemacht. Rita, eines der Kinder ist tot.“ Mutter
seufzte und begann leise zu weinen.
Vater nahm sie
vorsichtig in den Arm und sprach beruhigende Worte zu ihr. „Das andere Kind
lebt und ist gesund, es ist ein strammer Junge. Er braucht dich jetzt.“ Sie sah
ihm schluchzend in die Augen. „Ich sage der Schwester Bescheid, dass du wach
bist. Du sollst ihn gleich halten und wärmen!“ Vater wollte auf den Flur
hinauslaufen, doch Mutter streckte sogleich die Hand nach ihm aus. „Warte! Lass
mir Zeit, ich kann noch nicht.“ Sie ließ den Kopf hängen und fragte: „Warum
nur? Warum?“ Vater drückte sie an sich, und beide weinten sich die Seele frei.
„Rita, Rita, ich weiß es nicht. Es gibt keine Antwort darauf.“ Er ließ Mutter
schluchzen und weinen, und sie wurde immer leiser. Sie fragte nach einem
Taschentuch, putzte ihre Nase, fixierte ihn mit rot verquollenen Augen und bat
ihn, jetzt die Schwester zu rufen. Er verließ den Raum, doch kurze Zeit später kam
er zurück und lächelte sie auf eine Art an, dass Mutter das Herz schmelzen
wollte. Sie hatte noch Tränen in den Augen, diesmal jedoch vor Freude, obwohl
sie kurz zuvor erfahren hatte, dass eines ihrer Kinder tot auf die Welt
gekommen war. Ihre Neugier und ihr Verlangen nach dem lebenden Kind waren jetzt
größer als ihre Trauer. „Was genau ist passiert, Ewald?“, fragte sie und hielt
meines Vaters Hand.
„Rita, es waren
zweieiige Zwillinge. Ein Junge und ein Mädchen, sagten sie mir. Ich durfte das
tote Kind bisher nicht sehen. Es tut mir Leid, Rita. Aber ich weiß, wir werden
dem Jungen unsere ganze Liebe schenken“, hauchte Vater und küsste ihr eine
Träne von der Wange.
Als die
Krankenschwester hereinkam und mich in ihren Armen hielt, muss ich geschrien
haben. Vater strahlte mich an. Mutter hat mir erzählt, dass der Anblick unserer
beiden Gesichter damals so unterschiedlich gar nicht gewesen sein soll: er mit
der Miene der Sanftmut und ich mit dem Gesicht der Schutzlosigkeit.
Die Schwester
hatte die Bettdecke meiner Mutter zurückgeschlagen und legte mich zwischen den
rechten Arm und ihren Oberkörper. „Er ist hungrig“, sagte die Schwester.
Unsicher blickte Mutter auf, die Schwester nickte ihr zu, und Vater tat
dasselbe, ohne
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