Gottes blutiger Himmel
habe man nichts mehr von mir gehört, niemand habe Lösegeld gefordert, kein Vermittler sei aufgetaucht, und niemand habe etwas über meinen Verbleib gewusst, bis die Amerikaner ein Gelände in der Provinz Ramadi gestürmt hätten. Sie hätten mich dort anhand eines Fotos erkannt. Hätten sie nicht Informationen gehabt, dass ich dort festgehalten würde, hättensie mich wohl mit einem Gnadenschuss erledigt, denn ich sei ohnehin halb tot gewesen. Aber dass sie ein menschliches Wrack, dessen Gesichtszüge denen auf ihrem Foto ähnelten, da herausgeholt hatten, sei ein ganz guter Job gewesen, wenn auch nicht gerade professionell ausgeführt.
Ich stellte mir die Szene vor und dachte behelfsweise an einen Ausschnitt aus einem amerikanischen Kriegsfilm: herabstoßende Flugzeuge, Maschinengewehrfeuer, aufspritzende Erde, Rauch und Staub, Explosionen, Flüche und Geschrei. Eine Gewehrmündung wird mir an die Stirn gehalten, ein amerikanischer Soldat hat den Finger schon am Abzug, ein Offizier gebietet ihm Einhalt, ein Helikopter ist zu hören, sie legen mich auf eine Trage, eilen mit mir zum Hubschrauber und bringen mich in ein Feldlazarett.
Woran ich mich tatsächlich noch erinnerte, war ein amerikanischer Arzt, der meine Behandlung überwachte. Meine Entlassung aus dem Krankenhaus im Irak hing von seiner Erlaubnis ab. Ich sagte zu ihm: »Ich möchte nicht hier sterben.« – »Sie werden nicht sterben, sondern leben«, antwortete er. Ich sagte ihm, dass ich mich an nichts erinnerte. »Sie sind verletzt und traumatisiert«, gab er zurück. Ich klagte, ich wisse nicht, wer ich sei. »Wir wissen aber, wer Sie sind«, sagte er, »deshalb leben Sie ja noch.«
Am nächsten Tag kam er mit einem Leutnant namens Jonathan und einem jungen Iraker namens Fadhil zu mir. Der Iraker und der Leutnant freuten sich, mich zu sehen. Angeblich sei ich mit dem Amerikaner gut bekannt gewesen, und der Iraker habe mich in Bagdad die ganze Zeit über begleitet. Ich hatte das Gefühl, dass noch eine dritte Person fehlte, aber es war nur ein Gefühl. Sie waren gekommen, um sich von mir zu verabschieden, bevor ich das Krankenhaus auf einer Trage verlassen würde, so wie ich auf einer Trage gekommen war. Der Abschied fiel mir schwer. Ich hatte denEindruck, mich von zwei Männern zu trennen, denen ich viel zu verdanken hatte. Ich stellte mir vor, wie nahe sie mir gestanden hatten und dass man bei solch einem Anlass vieles sagen müsste, blieb aber stumm, weil ich fürchtete, ich könne nicht ertragen, was ich von ihnen erfahren würde. Während sie mir die Hände drückten, rang ich mit meinem Wunsch, ihnen etwas zu sagen und sie etwas zu fragen. Was, wusste ich selbst nicht.
Jonathan sagte: »Ich rate Ihnen, nicht zu versuchen, etwas in Erfahrung zu bringen, was Sie vergessen haben.«
Ich bekam Angst. War ich ein Kollaborateur der Amerikaner? Ich wagte nicht, die beiden danach zu fragen. Stattdessen sagte ich: »Ich komme mir vor wie ein Niemand.« Jonathan antwortete: »Das ist unter den gegebenen Umständen besser, als jemand zu sein. Wie gerne würde ich wie Sie einschlafen und wieder aufwachen und wäre dann auf dem Weg nach Florida. Dann würde ich auch beschließen, alles zu vergessen, was ich hier im Irak erlebt, gesehen und gehört habe.« Und Fadhil meinte: »Sie werden sich an uns erinnern, wenn es Ihnen bessergeht.« – »An Sie alle«, sagte ich, lächelte gequält und hoffte, mich an niemanden zu erinnern. Fadhils besorgte Miene fiel mir auf, und es schien mir, dass mich mit ihm mindestens so viel verband wie mit Jonathan.
Bevor ich das Krankenhaus verließ, fragte mich der Arzt noch: »Glauben Sie an Gott?«
Ich wandte meinen Kopf ab und sagte unsicher: »Ich weiß nicht.«
»Ihr Muslime seid doch durch Instinkt und Vererbung gläubig«, meinte er.
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich den Amerikaner.
»Danken Sie Gott, dass er Sie gerettet hat«, sagte er nur.
3
Meine Freundschaft mit Hassan reichte zurück in unsere Gymnasialzeit, also über dreißig Jahre, und sie hatte bis heute Bestand. So erzählte er es mir, und er gab mir eine ausführliche Zusammenfassung dessen, was wir erlebt hatten. Unser gemeinsamer Ehrgeiz waren Politik und Kultur, Hobbys und Spiel gewesen. Er hatte auch eine komplette Aufstellung unserer amourösen Abenteuer parat, die alle nicht triumphal endeten. Er lachte. Wir hatten noch jener Generation angehört, die an die Liebe als ein Allheilmittel glaubte. Wir verloren uns zwar aufgrund beruflicher
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