Gottes Gehirn
häufiger getroffen, einfach so oder, wenn es die Zeit erlaubte, zum Joggen oder zu gelegentlichen Abendessen. Die Tatsache, dass sie beide einmal auf derselben Schule gewesen waren und zusammen in einer Band gespielt hatten, schuf schnell eine Atmosphäre von Nähe und Vertrauen, und irgendwann hatte Troller festgestellt, dass er in Kranich so etwas wie einen Freund gefunden hatte, seinen besten Freund.
Gerade als er sich in den Mantel geworfen und sein Notizbuch eingesteckt hatte, kam doch noch Marias Anruf. Sie habe vor einer Woche ein Fahrrad für Sarah gekauft, sagte sie, es sei vielleicht noch ein bisschen früh dafür, aber sie habe gedacht, je früher, desto besser, na jedenfalls habe sie das Fahrrad gekauft und mit einem Scheck bezahlt. „Und stell dir vor, was mit dem Scheck passiert ist.“
„Er ist geplatzt.“
„Woher weißt du das?“
„Ich hab’s mir vorgestellt, das sollte ich doch.“
Und er versprach ihr, das Geld zu überweisen, obwohl er wegen der Brain-Inc.-Aktien sein Konto überziehen musste.
„Zukunft als Aufgabe“ stand auf dem Plakat im Foyer. Troller stieg die Treppe hoch und öffnete vorsichtig die Tür.
„... und deswegen, meine Damen und Herren, sollten wir auf den Zeitgeist nicht allzu viel geben“, hörte er Kranich sagen, als er sich durch die Saaltür schob, „denn der Zeitgeist irrt immer. Mal ist er optimistisch, wie in den sechziger Jahren, als die Ihr werdet es erleben-Studie von Kahn und Wiener die Diskussion beherrschte, dann wieder entdeckt er, wie in den Siebzigern, die Grenzen des Wachstums und sieht auf einmal alles schwarz. So schnell ändert sich der Zeitgeist.
Zehn Jahre reichen aus, um aus einer Welt von Optimisten eine Welt von Pessimisten zu machen. Aber hat sich die Welt entsprechend gewandert?
Nein, nur der Blickwinkel, nur das Paradigma.
Heute – seit den neunziger Jahren – scheinen Optimisten und Pessimisten in einer Art friedlicher Koexistenz zu leben. Die einen feiern die Chancen von Internet und Computer, die anderen warnen vor den Gefahren der Robotik. Die einen erwarten sich Wunder von der Gentechnologie, die anderen malen Schreckensvisionen von Menschen- und Chimärenzuchtung an die Wand. Aber beide“, sagte Kranich und hob die Stimme, „die Optimisten wie die Pessimisten, übersehen einen Aspekt, den man niemals vergessen darf.“
Er machte eine Pause und sagte dann:
„Die Überraschungswahrscheinlichkeit. Denken Sie einmal an den Fall der Berliner Mauer“, fuhr er fort, und in seiner Stimme schwang Begeisterung mit, „auch den hatte niemand vorhergesehen. Eben noch verhält sich ein komplexes System scheinbar völlig stabil – und im nächsten Moment steuert es auf einen Zustand äußersten Ungleichgewichts zu, der zu einem völlig veränderten Verhalten führt. Totaler Vernichtungskrieg oder friedlicher Übergang zur Demokratie, alles ist in einer solchen Grenzsituation möglich. Die Chaostheorie nennt so etwas eine Bifurkation , eine Weggabelung: An einem solchen Punkt genügen geringe Kräfte, um die Entscheidung für das weitere Systemverhalten zu bestimmen. Ein Meer kann plötzlich umkippen, ein Organismus lebensgefährlich erkranken, in einem Staat kann Anarchie ausbrechen. Die DDR steuerte auf eine solche Grenzsituation zu, ohne dass die Experten dies vorhersahen. Durch den Fall der Mauer, durch den plötzlichen Umschlag, wurden von einem Tag auf den anderen alle Pläne und Prognosen Makulatur. Der Fall der Mauer aber“, sagte Kranich mit erhobener Hand, um anzudeuten, dass er jetzt zum Kern seiner Thesen kam, „ist kein einmaliges Ereignis. Schon bald wird es den Experten unserer Zunft, den Pessimisten wie den Optimisten, wieder so ergehen, wenn nämlich morgen eine andere Mauer fällt. Eine Mauer“, sagte er, „die ich bereits bedenklich bröckeln sehe.“
Kranich hielt inne. Troller konnte die Spannung im Saal fühlen. Jeder schien sich zu fragen: Was ist das für eine Mauer, die da bröckelt? Selbst Troller, für den Kranichs Vortragsstil nicht neu war, musste sich eingestehen, dass er wieder einmal beeindruckt war.
Es schien so, als ob es Kranich schwer fiel, das Neue in die richtigen Worte zu fassen. Er räusperte sich, warf einen Blick ins Publikum und sagte zögernd:
„Es ist schwer, verständlich auszudrücken, was ich meine. Es ist mehr eine Ahnung, auch wenn ich so etwas als Wissenschaftler gar nicht sagen dürfte. Die Mauer, von der ich rede, ist eine geistige Mauer, eine Mauer des Bewusstseins. Sie ahnen
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