Gottes Gehirn
sagte Kranich und machte eine entschiedene Handbewegung, wie um sich von der Erinnerung an diese Konferenz zu lösen und den Faden seiner Vorlesung wieder aufzunehmen.
Aber er schien es jetzt doch eilig zu haben, seinen Vortrag zu beenden. Er sprach noch eine Weile über diverse Möglichkeiten einer aktiven Gestaltung der Zukunft, über > Zukunftswerkstätten < ,> Zukunftskonferenzen <, > Open Spaces < und andere Patentrezepte, und damit ging der Vortrag zu Ende.
Troller wartete, bis die Masse der Zuhörer den Saal verlassen hatte, und ging dann vor zum Rednerpult. Zwei gut gekleidete Herren standen bei Kranich und sprachen mit ihm. Der kleinere der beiden war Japaner oder Chinese, vielleicht auch Koreaner, der andere Amerikaner. Er war mindestens einsneunzig groß, hatte eine athletische Figur, eine Bürstenfrisur und eine gewisse Ähnlichkeit mit Clint Eastwood. Als Kranich Troller bemerkte, löste er sich von den beiden und ging auf ihn zu. Die beiden Fremden reagierten etwas erstaunt, der Amerikaner machte sogar einen Schritt hinter Kranich her, als ob er ihn begleiten wollte, aber der Japaner hielt ihn zurück.
„Tut mir Leid“, sagte Kranich leise. „Es ist noch was dazwischengekommen. Willst du nicht vorgehen?“
„Wohin?“
„Ach so, ja.“ Kranich lachte nervös.
„Ich hab gedacht, wir gehen in das vegetarische Restaurant da drüben. Auf der anderen Straßenseite. Ich komme in spätestens einer halben Stunde nach.“
Hakuin hieß das Restaurant. Es befand sich im Erdgeschoss eines Hochhauses, in dem es sonst offensichtlich nur Büros gab, und kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, dass sich im Basement ein fernöstlich inspiriertes Restaurant mit einem schilfrohrbestandenen Fischteich befand, in dem bunte Fische ruhig ihre Bahnen zogen. Troller ahnte, dass diese Diskrepanz Kranich gefallen musste, allein schon wegen der Überraschungswahrscheinlichkeit.
Nur drei Tische waren besetzt. Troller suchte sich eine Nische, in der er möglichst ungestört mit Kranich würde reden können, und begann, die Speisekarte zu studieren. Obwohl er selbst kein Vegetarier war, musste er zugeben, dass vieles sehr verlockend klang, wenn auch oft recht apart, wie das Haselnuss-Steak mit geröstetem TofuCarpaccio an Steinpilz-Feldsalat.
„Mit dem Essen warte ich noch“, sagte er, als der Kellner die Bestellung aufnehmen wollte. „Bringen Sie mir erst mal nur ein Mineralwasser.“
„Mit oder ohne?“
Troller verstand nicht: „Mit oder ohne was?“
„Kohlensäure.“
„Mit. Am besten eine große Flasche.“
Troller war unruhig. Selten hatte er Kranich so eindringlich erlebt. Was wollte er ihm so Wichtiges über Eklund erzählen?
John Eklund, so hatte es in einem kurzen Fernsehbeitrag geheißen, den Troller am Nachmittag gesehen hatte, war 1935 in Lillehammer, Norwegen, geboren worden. Er war eine der führenden Kapazitäten auf dem Gebiet der Klimaforschung gewesen. Nachdem er im Jahre 1979 den Nobelpreis bekommen hatte, wurde er von der Presse gern als „Klimapapst“ bezeichnet. Auf allen internationalen Klimakonferenzen war er ein beliebter und zugleich gefürchteter Redner. Besonders mit den unzureichenden Umweltmaßnahmen der Industriestaaten, allen voran der USA, ging er hart und unerbittlich ins Gericht. Wieder und wieder wurde der Satz des US-Vizepräsidenten auf der Klimakonferenz in Tokio zitiert, der damals vielen Beobachtern Rätsel aufgegeben hatte: „Mr. Eklund, Sie sollten sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.“ Es hatte beinahe wie eine Drohung geklungen.
Ein endgültiger Obduktionsbericht lag noch nicht vor. Einer vorläufigen Stellungnahme der Staatsanwaltschaft von Florida war zu entnehmen, dass Eklund von seiner Frau tot und ohne Gehirn aufgefunden wurde. Hätte sie seine Leiche nicht aus dem brennenden Haus herausgeholt, wäre wohl niemals ans Licht gekommen, dass ihm das Gehirn extrahiert worden war.
Die große Frage war natürlich: Wer hatte das getan? Und vor allem: wie? Erste Recherchen ergaben, dass eine solche Operation von den führenden Hirnforschungszentren zwar ins Auge gefasst, aber noch niemals am Menschen durchgeführt worden war. So stand die Welt vor dem Rätsel, welcher bislang unbekannten Technik sich die Mörder bedient und welches Motiv sie geleitet hatte.
Frau Eklund hatte angegeben, ihr Mann habe zwar eine Menge Gegner gehabt, aber keine nennenswerten Feinde. Der Satz des damaligen US-Vizepräsidenten sei vollkommen überbewertet worden. Ihr Mann sei mit ihm
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