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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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Vorwort
    Als Dr. Karl Wolff vorschlug, ich solle das Tagebuch veröffentlichen, das ich während meines vorletzten Schuljahrs im Internat geführt habe, glaubte ich zunächst, ich hätte mich verhört. Er ist an mir oder besser gesagt an meinem Fall interessiert, seit ich vor dreißig Jahren bei ihm in psychiatrischer Behandlung war, und wir telefonieren dann und wann miteinander. Allerdings hatte ich das Tagebuch nicht mehr gesehen, seit ich es ihm damals in der Klinik übergeben hatte, und wir hatten nur einmal darüber gesprochen. Damals machte er mir klar, ich müsse mit dieser Phase meines Lebens abschließen. Das Tagebuchschreiben aufzugeben war der erste Schritt dorthin.
    Meine erste Reaktion auf den Vorschlag war ein Nein. Ich hatte das Tagebuch nicht in der Absicht geschrieben, es irgendjemanden lesen zu lassen. Und Dr. Wolff hatte es nur behalten, weil er es meiner Mutter bei meiner Entlassung aus der Klinik versprochen hatte. Ich hatte es geschrieben, um für mich festzuhalten, wie ich mit sechzehn war. Außerdem habe ich eine Tochter, die jetzt so alt ist wie ich damals, und möchte sie schützen. Ich glaube, sie muss nicht alles über mich wissen.
    Dr. Wolff beruhigte mich. Sämtliche Namen würden geändert. Man könne mich unmöglich in der Person der Erzählerin wieder erkennen. Es würde sogar schwierig, die Schule zu erkennen. Vor allem aber war er der Ansicht, das Tagebuch könne in einer Zeit, in der riskante Verhaltensweisen bei jungen Mädchen geradezu epidemische Ausmaße angenommen hätten, einen unschätzbaren Beitrag zur Literatur über die weibliche Adoleszenz liefern. Er habe das Tagebuch zufällig noch einmal in die Hand bekommen, als er sein Büro wegen des bevorstehenden Ruhestands auflöste, und sei überrascht gewesen, wie überzeugend meine Worte klangen.
    Ich weiß nicht, ob ich ihm darin zustimme. Allerdings haben mich die Tagebücher junger Mädchen schon immer fasziniert. Sie sind wie Puppenhäuser. Schaut man hinein, wirkt die Welt auf einmal sehr fern, wenn nicht unglaublich. Hätten wir nur die Macht, in solchen Momenten aus uns herauszutreten, würden wir uns eine Menge Schmerz und Angst ersparen. Ich spreche nicht von Wahrheit oder Täuschung, sondern vom Überleben.
    Ich stimmte Dr. Wolffs Vorschlag unter Vorbehalt zu. Falls ich ihm, nachdem ich mein Tagebuch noch einmal gelesen hatte, Recht geben sollte, würde ich ihm die Erlaubnis zur Veröffentlichung erteilen.
    Auch bat er mich, ein Nachwort zu verfassen, das eine Art Abschluss meiner Erfahrungen bilden sollte. Seiner Meinung nach komme es sehr selten vor, dass sich jemand, der unter einer Borderline-Störung mit Depressionen und Psychose gelitten habe, so völlig erhole und keine weitere »Episode« erleide, wie er es freundlicherweise bezeichnete. Er war sicher, meine Reaktionen auf das Tagebuch könnten durchaus erhellend sein.
    Das kann ich nicht beurteilen. Als ich das Buch aufschlug, fand ich die Rasierklinge, die ich vor so langer Zeit zwischen die Seiten gelegt hatte. Dr. Wolff hatte sie als Teil des »klinischen Bildes« behalten, wie er mir erklärte. Sie wirkte völlig deplatziert. Bloß eine Rasierklinge. Und die Wörter auf der Seite waren bloß das – Wörter in einer vertrauten Handschrift.
    Ich kann denen, die sich fragen, ob man das Erwachsenwerden überleben kann, nicht mehr als dies zur Beruhigung anbieten.

T HE M OTH D IARIES D IE S EHNSUCHT DER F ALTER

September
10. September
    Meine Mutter setzte mich um zwei ab. Praktisch alle sind wieder da. Außer Lucy. Ich kann es gar nicht erwarten, dass sie kommt, dann können wir gemeinsam auspacken. Ich werde Tagebuch schreiben, bis sie hier ist.
    Nachdem meine Mutter gegangen war, verspürte ich eine Leere im Magen, die sich in meine Kehle und bis hinter die Augen ausbreitete. Ich habe nicht geweint, obwohl ich mich danach vermutlich besser gefühlt hätte. Ich musste an diesem Gefühl, diesem Schmerz festhalten. Wäre Lucy hier gewesen, hätte sie mich abgelenkt. Ich geriet kurz in Panik, als ich mich von meiner Mutter verabschiedete. Ich hätte sie beinahe angefleht, mich nicht hier zu lassen. Es ist so seltsam. Den ganzen letzten Monat habe ich mich auf die Schule gefreut. Ich war sogar aufgeregt, als die neuen Uniformen mit der Post kamen. Der hellblaue Sommerrock war steif wie Pappe. Ich musste ihn waschen, bevor ich ihn anziehen konnte. Ich bin froh, dass ich nicht zu den Tagesschülerinnen gehöre und mir Gedanken darum machen muss, wie ich

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