Gotteszahl
konnte kaum noch atmen. Der Fremde fing ihn auf, als er fiel. Niclas Winter lächelte und versuchte, den Film wegzublinzeln, der sich über seinen Blick legte. Er bekam keine Luft. Seine Lunge streikte.
Er registrierte kaum, dass sein linker Pulloverärmel aufgekrempelt wurde. Die nächste Spritze fraß sich in die blaue Ader auf der Innenseite des Ellbogens.
Es war jetzt der 27. Dezember 2008, und es war drei Minuten nach halb zwölf Uhr vormittags. Als Niclas Winter starb, mit zweiunddreißig Jahren und kurz vor dem internationalen Durchbruch als Künstler, lächelte er noch immer überrascht.
Ragnhild Vik Stubø lachte ihr fröhlichstes Lachen. Inger Johanne lachte zurück, hob alle Würfel auf und warf noch einmal.
»Du spielst nicht gerade gut Yatzy, Mama.«
»Pech im Spiel, Glück in der Liebe. Damit muss ich mich trösten.«
Die Würfel zeigten zwei Einser, einen Dreier, einen Vierer und einen Fünfer. Inger Johanne zögerte kurz, dann ließ sie die Einser liegen und setzte zum letzten Wurf an.
Das Telefon klingelte.
»Nicht schummeln, wenn ich weg bin«, befahl sie mit aufgesetzter Strenge und stand auf.
Das Telefon lag in der Küche. Sie drückte auf das grüne Symbol. »Inger Johanne«, sagte sie kurz.
»Hallo, ich bin’s.«
Sie verspürte einen Stich der Irritation, weil Isak sich niemals vorstellte. Es hätte Yngvars Privileg sein müssen, sich ohne Namensnennung an sie zu wenden. Isak und sie waren schließlich seit über zehn Jahren geschieden. Er war der Vater ihrer älteren Tochter, na gut, und es war ein Glück für sie alle, dass sie zusammenarbeiten konnten. Ein engeres Familienmitglied aber war er nicht mehr, auch wenn er sich so aufführte.
»Hallo«, sagte sie ohne Begeisterung. »Danke dafür, dass du Ragnhild gestern nach Hause gefahren hast. Wie geht es Kristiane?«
»Ja, deshalb rufe ich an. Jetzt musst du … Jetzt musst du versprechen, dass du nicht …«
Inger Johanne spürte, wie die Haut zwischen ihren Schulterblättern sich zusammenzog. »Was denn?«, fragte sie, als er zögerte.
»Ja, also … Ich bin im Einkaufszentrum Sandvika. Wollten ein paar Weihnachtsgeschenke umtauschen und … Kristiane und ich. Jetzt ist das Problem aber … Wenn du böse wirst, dann hilft uns das auch nicht weiter.«
Inger Johanne versuchte zu schlucken. »Was ist mit Kristiane passiert?«, fragte sie und zwang sich, leise zu bleiben.
Sie hörte, wie Ragnhild im Wohnzimmer immer wieder neu würfelte.
»Sie ist verschwunden. Also, nicht verschwunden. Aber ich … Ich finde sie nicht. Ich wollte nur …«
»Du hast Kristiane aus den Augen verloren? Im Einkaufszentrum Sandvika?«
Sie sah das riesige Einkaufszentrum vor sich, das größte in Skandinavien, drei Etagen, über hundert Geschäfte und so viele Ausgänge, dass ihr schwindlig wurde. Sie stützte sich auf den Küchentisch.
»Jetzt bleib mal ganz ruhig, Inger Johanne. Ich hab der Direktion Beschied gesagt, und es wird schon nach ihr gesucht. Ist dir klar, wie viele Kinder hier jeden Tag verloren gehen? Jede Menge! Sicher wühlt sie ganz vertieft in irgendeinem Laden herum. Ich rufe auch nur an, um zu fragen, ob es irgendein Geschäft hier gibt, das ihr besonders gut gefällt …«
»Verdammt, du hast mein Kind verloren!«
Inger Johanne schrie, ohne an Ragnhild zu denken. Die Kleine fing an zu weinen, und Inger Johanne versuchte, sie aus der Entfernung zu trösten, während sie gleichzeitig weiterredete.
»Das ist ja streng genommen unser Kind«, sagte Isak am anderen Ende der Leitung. »Und sie ist nicht …«
»Ragnhild, das ist alles gar nicht schlimm. Mama hat sich nur für einen Moment aufgeregt. Warte noch kurz, dann komme ich.«
Die Kleine ließ sich nicht beirren. Sie brüllte los und warf die Würfel auf den Boden. »Ich will nicht verloren werden, Mama!«
»Versuch es im Teddyladen«, fauchte Inger Johanne ins Telefon. »Da, wo man die Teddys selbst bauen kann. Er liegt am Ende des Übergangs vom alten in den neuen Teil des Zentrums.«
»Mama! Mama! Wer hat mich verloren? «
»Pst, Liebes. Mama kommt gleich. Niemand hat dich verloren, das ist doch klar. Ich komme! «
Das Letzte fauchte sie ins Telefon.
»Lass das Mobiltelefon eingeschaltet. Ich kann in zwanzig Minuten bei dir sein. Ruf mich sofort an, wenn etwas geschieht.«
Inger Johanne beendete das Gespräch, steckte das Telefon in die Hosentasche, lief ins Wohnzimmer, hob ihre jüngere Tochter auf und tröstete sie, während sie durch die Wohnung
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