Gotteszahl
und zur Treppe nach unten stürzte.
»Niemand verliert dich, das ist ja wohl klar. Du brauchst nicht zu weinen, Mama ist doch da.«
»Warum hast du gesagt, dass irgendwer mich v-v-verloren hat?« Ragnhild schluchzte, hatte sich aber ein wenig beruhigt.
»Das hast du falsch verstanden, Schatz. So was kommt vor.«
Sie wurde langsamer, als sie die Treppe erreicht hatte, und ging mit ruhigen Schritten nach unten. »Jetzt machen wir einen kleinen Ausflug. Ins Einkaufszentrum Sandvika.«
»Sandzentrum Einkaufsvika«, sagte Ragnhild und lächelte unter Tränen.
»Genau.«
»Was krieg ich da?«
»Du kriegst gar nichts, Herzchen. Wir wollen nur … Wir wollen nur Kristiane abholen, weißt du.«
»Kristiane kommt morgen«, widersprach das Kind. »Heute Abend wollen nur ich und du mit Popcorn auf dem Sofa Kino sehen.«
»Zieh die Stiefel an. Beeil dich bitte.«
Ihr Herz flimmerte. Sie schnappte nach Luft und streifte ihre Jacke über, während sie sich ein Lächeln abrang. »Deine Jacke nehmen wir einfach mit. Komm jetzt.«
»Ich will eine Mütze! Und Handschuhe. Draußen ist es kalt, Mama!«
»So«, sagte Inger Johanne und riss etwas aus dem Regal. »Du kannst dich im Auto anziehen.«
Ohne auch nur die Haustür abzuschließen, nahm sie ihre Tochter an der Hand und lief die Vortreppe hinunter und über den Kiesweg zum Auto, das zum Glück gleich vor dem Tor stand.
»Das tut weh«, protestierte Ragnhild. »Mama, du hältst zu fest!«
Inger Johanne wurde es schwindlig. Wieder verspürte sie die Angst von damals, als sie Kristiane zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte. Wunderbar, sagte die Hebamme. Schön und gesund, sagte Isak. Aber Inger Johanne wusste es besser. Sie schaute ihre eine halbe Stunde alte Tochter an, die so still war und die irgendetwas an sich hatte, das Inger Johanne in Stücke zu sprengen drohte.
»Steig ein«, sagte sie ein wenig zu streng und öffnete die Tür zur Rückbank. »Ich schnall dich gleich an.«
Das Telefon klingelte. Zuerst hatte sie vergessen, dass sie es in die Hosentasche gesteckt hatte, und betastete ihre Jackentasche.
»Dein Po ruft an«, sagte Ragnhild und kletterte ins Auto.
»Ja«, sagte Inger Johanne atemlos ins Telefon, als sie es aus der Tasche gefischt hatte.
»Ich hab sie gefunden«, sagte Isak lachend von weither. »Sie war im Teddyladen, genau wie du gedacht hast, und es geht ihr richtig gut. Ein Mann hatte sich um sie gekümmert, und sie waren in ein nettes Gespräch vertieft, als ich gekommen bin.«
Inger Johanne lehnte sich an den Wagen und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Eine gewaltige Erleichterung darüber, dass Kristiane aufgetaucht war, wurde von Isaks Worten überschattet.
»Was für ein Mann?«
»Was für ein … ha? Da rufe ich an, um dir zu sagen, dass es Kristiane bestens geht, genau wie ich erwartet hatte, und da verbeißt du dich in…«
»Ist dir überhaupt klar, dass Einkaufszentren ein Eldorado für Pädophile sind?«
Ihre Worte wurden in der eiskalten Luft zu Wolken aus grauem Dampf.
»Mama, willst du mich nicht anschnallen?«
»Gleich, Herzchen. Was für ein …«
»Nein, ehrlich, Inger Johanne. Das lasse ich mir einfach nicht gefallen.«
Isak Aanonsen wurde nur sehr selten böse.
Sogar als Inger Johanne an einem späten Abend vor einer Ewigkeit vom Sofa aufgestanden war und erklärt hatte, die Ehe sei ihrer Ansicht nach nicht mehr zu retten und sie habe schon die nötigen Papiere besorgt, hatte Isak versucht, positiv zu sein. Er hatte eine Weile allein im Wohnzimmer gesessen, während Inger Johanne weinend zu Bett gegangen war. Eine Stunde später hatte er an die Schlafzimmertür geklopft, schon darauf gefasst, nicht mehr die wichtigste Vertrauensperson zu sein. Kristiane sei das Wichtigste, sagte er. Kristiane werde immer für sie beide das Wichtigste sein, und er wollte versuchen, sich mit ihr darüber zu einigen, wie sie für ihre Tochter die praktischen Fragen regeln könnten, ehe sie zu schlafen versuchten. Als der Morgen graute, hatten sie ihre Abmachung. Seither hatte er sich stets zuverlässig daran gehalten.
Jetzt war er wütend. »Das ist Hysterie. Der Mann, der mit Kristiane geredet hat, war ein ganz normaler Mann, der offenbar bemerkt hatte, was für … was für eine Art Kind sie ist. Er war freundlich, und Kristiane hat gelächelt und ihm zugewinkt, als wir gegangen sind. Jetzt steht sie hier und …«
Inger Johanne konnte im Hintergrund Kristianes übliches Dam-di-rum-ram hören. Sie fing an zu weinen.
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