Grabesdunkel
Ihr Rücken bebte. Agnes wartete still. Fragte sich, ob sie ihr eine Hand auf die Schulter legen sollte oder ob das zu weit gehen würde.
»Ich habe sie gefunden«, sagte Ester so leise, dass Agnes sie durch das Trommeln des Regens aufs Autodach kaum verstehen konnte. »Ich habe in der Diele nasse FuÃabdrücke gesehen. Und dann habe ich sie im Schlafzimmer gefunden. Sie lag nackt auf dem Bett. Es hat gestunken, nach ScheiÃe, glaube ich. Ich habe mich hingekniet, ich musste mich übergeben. Erst nachher, als ich wieder aufgestanden bin, habe ich das Messer in ihrem Gesicht stecken sehen, es sah aus, als würde das Auge immer noch bluten. Ich habe versucht, sie wachzurütteln, aber â¦Â«
Ester übergab sich. Agnes reichte ihr ein Taschentuch. Als Ester es entgegennahm, fiel Agnes ein dunkelroter Fleck auf ihrem rechten Blusenärmel auf. Konnte das Blut von Helle Isaksen stammen?
»Ich habe die Polizei angerufen«, fuhr Ester fort. »Dann bin ich aus der Wohnung gestürzt. Ich musste einfach raus, ich bekam keine Luft mehr. Als ich wieder zurückkam, war alles abgesperrt, überall war Polizei. Ich kann jetzt einfach nicht mit der Polizei reden. Ich traue mich nicht.«
»Wie meinst du das?«
Ester antwortete nicht. Sie drehte sich wieder zu Agnes um, zog die Autotür zu.
»Bitte, fahr noch nicht. Mir ist so übel, und vom Fahren wird mir noch schlechter.«
»Hatte Helle einen Freund?«
»Keinen festen«, antwortete Ester.
»Und einen Exfreund?«
»Das schon, aber das ist echt lange her. Er heiÃt Tom.«
»Tom und wie weiter?«
»Tom Marius Westerberg. Er studiert auch an der Handelshochschule.«
»Glaubst du, dass er es war?«
»Sie waren nur kurz zusammen, letzten Herbst.«
»Gibt es jemand anderen, von dem du dir vorstellen kannst, dass er das getan hat?«
Ester antwortete nicht, sondern starrte nur weiter vor sich hin.
»WeiÃt du, ob Helle Drogen genommen hat?«
Ester schüttelte entschieden den Kopf.
»War die Tür aufgebrochen?«
»Nein. Als ich kam, war sie nicht verschlossen. Sie muss ihm aufgemacht haben.«
»Dann weiÃt du also, dass es ein Er war?«
»Etwas anderes ist doch wohl unwahrscheinlich. AuÃerdem habe ich die FuÃabdrücke in der Diele gesehen. Von Herrenschuhen.«
Agnes nickte. In der Wohnung dürften mehr als reichlich Spuren sein. Wenn Ester die Freundin nackt vorgefunden hatte, dann war Helle Isaksen vielleicht vergewaltigt worden. Plötzlich sah Agnes, wie Ester zusammenzuckte. Sie starrte einen Mann in dunklen Regensachen an, der auf sie zugeeilt kam.
»Fahr«, rief Ester so laut, dass ihre Stimme brach.
Agnes lieà sofort den Motor an. Bevor sie den Parkplatz verlieÃ, warf sie einen schnellen Blick in den Rückspiegel. Der Mann setzte sich gerade in eines der Autos, doch Ester nahm keine Notiz davon. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte. Agnes beschleunigte und fuhr weiter auf die E18. Sie registrierte, dass ihr auf Lautlos gestelltes Handy in der Tasche mehrmals vibrierte, wagte aber nicht, sich zu melden. Sie hatte jetzt zwei Prioritäten: Sie musste Ester beruhigen, und sie musste so viele Informationen wie möglich aus ihr herausholen. Agnes mochte in der Kriminaljournalistik ein Neuling sein, aber ihr war sofort klar gewesen, dass die junge Frau auf dem Beifahrersitz journalistisch gesehen der Hauptgewinn war.
»Warum hat dir der Mann auf dem Parkplatz solche Angst eingejagt? Hast du ihn für Helles Mörder gehalten?«
Agnes warf einen Blick auf das Profil ihrer Beifahrerin. Die nickte kurz. So beantwortete sie die meisten Fragen, die Agnes ihr während der Fahrt stellte. Mit Nicken oder Kopfschütteln. Hin und wieder kam überhaupt keine Reaktion. Agnes war unsicher, wie sehr sie insistieren sollte, aber ein bisschen bekam sie dennoch aus ihr heraus.
Ester und Helle hatten sich über das Studium an der Handelshochschule kennengelernt. Ester hatte Helle schon bald angeboten, in ihre Wohnung in Majorstua mit einzuziehen. Viele ihrer Bekannten gingen mehr oder weniger regelmäÃig in einen Edelschuppen in Frogner, der sich Hjørnet nannte, die Ecke, erzählte Ester. Agnes hatte davon gehört. Oslos neuer Yuppietreffpunkt.
Sie erreichten Asker und näherten sich Esters Elternhaus. Agnes war noch nie in dieser Gegend gewesen. Die Einfamilienhäuser lagen wie
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