Grabesstille
Blutergüssen eher untertrieben, da sie wusste, dass die Aufnahmen die Geschichte besser erzählen würden, als sie selbst es konnte. Einem Foto konnte niemand Parteinahme oder Verfälschung der Wahrheit vorwerfen. Und die Wahrheit, die ihnen aus diesem Dia entgegenstarrte, war für alle offensichtlich: Fabian Dixon war brutal zusammengeschlagen worden, ehe man ihn auf den Rücksitz eines Streifenwagens gesetzt hatte.
Weitere Dias erschienen auf der Leinwand, während Maura schilderte, was die Obduktion ergeben hatte. Mehrere gebrochene Rippen. Ein verschluckter Zahn im Magen. Eingeatmetes Blut in der Lunge. Und die Todesursache: ein Milzriss, der zu einer massiven Blutung in die Bauchhöhle geführt hatte.
»Und was können Sie zur Todesart sagen, Dr. Isles?«, fragte Aguilar.
Das war die entscheidende Frage, vor der sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte – denn sie wusste, welche Konsequenzen ihre Antwort haben würde.
»Es liegt ein Tötungsdelikt vor«, sagte Maura. Es war nicht ihre Aufgabe, den Schuldigen zu benennen. Sie beschränkte sich auf diese sachliche Feststellung, doch sie konnte nicht umhin, Wayne Graff dabei mit einem Blick zu streifen. Der beschuldigte Polizeibeamte saß regungslos da, seine Miene so undurchdringlich wie eine steinerne Maske. Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte er der Stadt Boston in vorbildlicher Weise gedient. Ein Dutzend Leumundszeugen hatten sich bereit erklärt, vor Gericht auszusagen, wie Officer Graff ihnen unerschrocken zu Hilfe gekommen sei. Er sei ein Held, sagten sie, und Maura glaubte ihnen.
Doch am Abend des 31. Oktober, dem Abend, an dem Fabian Dixon einen Polizeibeamten ermordete, hatten Wayne Graff und sein Partner sich in Racheengel verwandelt. Sie hatten den Täter festgenommen, und zum Zeitpunkt seines Todes war er in ihrem Gewahrsam gewesen. Der Festgenommene war erregt und gewalttätig, als ob er unter dem Einfluss von PCP oder Kokain stünde , hatten sie in ihrer Aussage geschrieben. Sie schilderten Dixons ungewöhnlich heftigen Widerstand, seine schier übermenschlichen Kräfte. Nur mit vereinten Bemühungen war es den beiden Beamten gelungen, den Gefangenen in den Streifenwagen zu schaffen. Um ihn zu überwältigen, war Gewaltanwendung erforderlich, doch er schien keine Schmerzen zu spüren. Während dieses Kampfs gab er tierische Grunzlaute von sich und versuchte, sich die Kleider vom Leib zu reißen, obwohl die Temperaturen an diesem Abend nur um fünf Grad über null lagen. Damit hatten sie – fast schon zu präzise – den bekannten Erregungszustand eines Patienten im Kokaindelirium beschrieben, durch das schon andere vom Drogenmissbrauch verwirrte Gefangene zu Tode gekommen waren.
Monate später jedoch zeigte der Toxikologiebericht, dass Dixon lediglich Alkohol im Blut gehabt hatte. Damit stand für Maura zweifelsfrei fest, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelte. Und einer der Täter saß nun am Tisch der Verteidigung und starrte Maura an.
»Ich habe keine weiteren Fragen«, sagte Aguilar. Sie setzte sich, und ihre zufriedene Miene ließ erkennen, dass sie überzeugt war, die besseren Argumente auf ihrer Seite zu haben.
Nun erhob sich Morris Whaley, der Anwalt der Verteidigung, zum Kreuzverhör, und Maura spürte, wie ihre Muskeln sich anspannten. Whaley machte einen durchaus freundlichen Eindruck, als er auf den Zeugenstand zuging, als ob er nur einen netten Plausch halten wollte. Wären sie sich bei einer Cocktailparty begegnet, dann hätte Maura die Gesellschaft dieses attraktiven Mannes in seinem schicken Anzug vielleicht sogar als angenehm empfunden.
»Ich denke, wir sind alle beeindruckt von Ihren Qualifikationen, Dr. Isles«, sagte er. »Ich werde also die Zeit des Gerichts nicht noch länger in Anspruch nehmen, indem ich Ihre akademischen Erfolge unter die Lupe nehme.«
Sie erwiderte nichts, starrte nur in sein lächelndes Gesicht und fragte sich, aus welcher Richtung der Angriff wohl kommen würde.
»Gewiss wird niemand hier in diesem Saal bezweifeln, dass Sie sehr hart gearbeitet haben, um dorthin zu gelangen, wo Sie heute sind«, fuhr Whaley fort. »Insbesondere in Anbetracht gewisser Schwierigkeiten, mit denen Sie in den vergangenen Monaten in Ihrem Privatleben zu kämpfen hatten.«
»Einspruch.« Aguilar seufzte entnervt und stand auf. »Das tut nichts zur Sache.«
»Das tut es sehr wohl, Euer Ehren. Es betrifft die Einschätzung des Sachverhalts durch die Zeugin.«
»Inwiefern?«, fragte der Richter
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