Grabesstille
könnte. Jemanden, der mir helfen würde.«
»Wobei helfen?«
Ich weiß nicht, wie ich ihre Frage beantworten soll. Einen Moment lang ist das einzige Geräusch die blecherne Mariachi-Musik, die aus den Lautsprechern des Restaurants tönt.
»Erinnerst du dich an deinen Vater?«, frage ich. »Erinnerst du dich daran, was mit ihm passiert ist?«
Sie starrt mich an. »Darum geht es also, nicht wahr? Deswegen haben Sie mich gesucht? Weil meine Mutter Ihnen von ihm geschrieben hat.«
»Dein Vater war ein guter Mann. Er hat dich geliebt, und du entehrst ihn. Du entehrst deine beiden Eltern.« Ich lege ein Bündel Geldscheine vor sie auf den Tisch. »Das hier ist zu ihrem Gedächtnis. Sieh zu, dass du von der Straße wegkommst, und geh wieder zur Schule. Da musst du dich wenigstens nicht gegen fremde Männer zur Wehr setzen.« Ich drehe mich um und verlasse das Restaurant.
Sekunden später stürzt sie zur Tür hinaus und läuft mir nach. »Warten Sie!«, ruft sie. »Wohin gehen Sie?«
»Zurück nach Hause, nach Boston.«
»Ich erinnere mich doch an Sie. Ich glaube, ich weiß, was Sie wollen.«
Ich bleibe stehen und sehe sie an. »Es ist dasselbe, was auch du wollen müsstest.«
»Was muss ich tun?«
Ich mustere sie von Kopf bis Fuß, und ich sehe magere Schultern, sehe Hüften, so schmal, dass die Bluejeans kaum Halt findet. »Es geht nicht darum, was du tun musst«, antworte ich. »Es geht darum, was du sein musst.« Langsam gehe ich auf sie zu. Bis zu diesem Moment hat sie keinen Grund gesehen, mich zu fürchten. Warum auch? Ich bin nur eine Frau. Aber jetzt sieht sie etwas in meinen Augen, und es lässt sie einen Schritt zurückweichen.
»Hast du Angst?«, frage ich sie leise.
Ihr Kinn ruckt in die Höhe, und sie entgegnet mit gespielter Tapferkeit: »Nein.«
»Das solltest du aber.«
2
Sieben Jahre später
»Mein Name ist Dr. Maura Isles – ich buchstabiere: I–S–L–E–S. Ich bin Ärztin und Rechtsmedizinerin und arbeite am Rechtsmedizinischen Institut des Staates Massachusetts.«
»Bitte beschreiben Sie dem Gericht Ihre Ausbildung und Berufserfahrung, Dr. Isles«, forderte die Staatsanwältin von Suffolk County, Carmela Aguilar, Maura auf.
Maura hielt den Blick auf die Staatsanwältin gerichtet, während sie die Frage beantwortete. Es war wesentlich angenehmer, sich auf Aguilars neutrale Miene zu konzentrieren, als die hasserfüllten Blicke des Angeklagten und seiner Unterstützer zu ertragen, von denen Dutzende sich im Gerichtssaal versammelt hatten. Aguilar schien gar nicht zu registrieren, dass sie den Fall vor einem feindseligen Publikum verhandelte – oder es war ihr gleichgültig. Doch Maura spürte es nur zu deutlich. Ein großer Teil der Zuhörer waren Polizisten und deren Freunde, und was Maura zu sagen hatte, würde ihnen ganz und gar nicht gefallen.
Der Angeklagte war Wayne Brian Graff vom Boston Police Department, und mit seinem kantigen Unterkiefer und den breiten Schultern sah er aus wie das Idealbild des amerikanischen Helden. Die Sympathien im Saal lagen bei Graff, nicht beim Opfer – einem Mann, der vor sechs Monaten übel zugerichtet und mit gebrochenen Knochen auf Mauras Obduktionstisch gelandet war. Einem Mann, um den niemand getrauert hatte, dem niemand das letzte Geleit gegeben hatte. Ein Mann, der zwei Stunden vor seinem Tod die unverzeihliche Sünde begangen hatte, einen tödlichen Schuss auf einen Polizeibeamten abzufeuern.
Maura spürte die Blicke der Zuschauer, die sich wie glühend heiße Laserstrahlen in ihr Gesicht brannten, als sie ihren Werdegang schilderte.
»Ich habe an der Stanford University ein Studium der Anthropologie mit dem BA abgeschlossen«, sagte sie. »Anschließend absolvierte ich ein Medizinstudium an der University of California in San Francisco, gefolgt von einer fünfjährigen Facharztausbildung in Pathologie und Rechtsmedizin am gleichen Institut. Ich besitze Zulassungen in beiden Fachgebieten. Nach meiner Assistenzzeit absolvierte ich noch eine zweijährige Spezialausbildung in Rechtsmedizin an der University of California in Los Angeles.«
»Sie haben also die Kammerprüfung in Ihrem Spezialgebiet abgelegt?«
»Ja, Ma’am. Sowohl in Allgemeiner Pathologie als auch in Rechtsmedizin.«
»Und wo haben Sie gearbeitet, bevor Sie Ihre Stelle hier in der Bostoner Rechtsmedizin antraten?«
»Ich war sieben Jahre lang am Rechtsmedizinischen Institut von San Francisco in Kalifornien beschäftigt. Zudem war ich in dieser Zeit als Dozentin an
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