Granatsplitter
Parteiensystem mit dem Bismarckschen verglichen. Dabei war er auf das Unterhaus zu sprechen gekommen: wie sich das Zweiparteiensystem – im 19. Jahrhundert waren es die Liberalen und Konservativen, im 20. kam die Labourparty dazu – in der Sitzordnung des Unterhauses ausdrücke. Nun aber sah er es mit eigenen Augen.
Er guckte sofort, ob er Churchill sehen würde. Eine große Enttäuschung, er war nicht da. Aber er sah den Außenminister Eden. Der war sofort erkennbar, ganz das Inbild des englischen Gentleman. Eine ganze Reihe von vor allem konservativen Abgeordneten, auch jüngeren, sah ähnlich aus. Ein Labourabgeordneter aus der zweiten Sitzreihe stand und redete in einem herausfordernden Ton in Richtung des ihm gegenübersitzenden Ministers in der ersten der konservativen Reihe. Manchmal wurde das, was er sagte, von anderen Labourleuten mit einem zustimmenden Wort begleitet. Es kam zu einem Wortgefecht. Sie sprachen alle ohne Manuskript. Plötzlich stand Eden auf und trat an das Rednerpult, das zwischen beiden gegnerischen Parteien stand. Das Thema hatte wohl gewechselt. Er konnte ja nicht genau verstehen, um was es politisch ging, abgesehen davon, dass Guy ihm manchmal etwas zuflüsterte. Er hörte Namen, die sich wohl auf die Kolonien bezogen. Eden hatte einen metallischen Tonfall, dessen melodiöses Auf und Ab auf ihn leicht arrogant wirkte. Aber wohl nur deshalb, weil er die Sprache dieser Oberschicht nicht gewöhnt war. Guy und Julian sprachen auch vollkommen anders, als was er sonst so auf der Straße hörte oder beim alten Sergeanten in Kent und Lincolnshire. Nun aber Eden. Manchmal verschlang dieser die Wörter oder sprach sie nur halb aus, so empfand er das, obwohl er deren Sinn nicht mitbekam. Als Eden geendet hatte, trat der Führer der Opposition, Attlee, ans Pult. Nur diejenigen von jeder Partei, die in der ersten Reihe saßen, hatten das Recht, von diesem Pult aus zu sprechen. Es hieß, das erklärte ihm Guy, »dispatch box«. Die Tatsache, dass die beiden Parteien sich so auf Augennähe gegenüber saßen, trug zu der frontalen Art und Weise ihrer Rede bei. Deshalb gab es auch eine Art Schiedsrichter zwischen den Parteien. Der saß auf einem prächtigen erhöhten Sessel fast wie auf einem Thron und unterbrach die Sitzung, wenn jemand zu ausfällig oder die Reaktion der Zuhörer zu laut wurde. Dann rief er »order, order«, auch so ein halbdeutsches Wort. Als Eden sprach, passierte das zweimal, weil die Labourbank aufgebracht war.
Er hatte erst kürzlich mit dem Vater in der Heimatstadt eine Parlamentsdebatte im Fernsehen verfolgt. Auch da ging es heftig zu, aber hier im englischen Unterhaus war es völlig anders. Fernsehübertragungen der Debatten gab es hier nicht. Zum einen saßen die Abgeordneten sehr viel ungezwungener da, manche standen auch oder lehnten sich an die Wand, weil die Bänke voll besetzt waren. Zum anderen flogen die Wortwechsel unmittelbarer von der einen Seite zur anderen. Als er auf die Parlamentarier hinunterblickte, kam ihm der Gedanke, dass von diesen Plätzen – es war ja gar nicht solange her – die berühmten Kriegsreden englischer Politiker, vor allem von Churchill gehalten worden waren. Derselbe Raum, dieselben Plätze, zum Teil noch dieselben Männer. Er hatte von diesen Reden zu Hause gehört, von ihrer Wucht, einem furchtgebietendem Mut. Das wurde inzwischen auch von manchen deutschen Politikern und Journalisten anerkannt, die etwas Ahnung von England hatten.
Guy war im Unterschied zu dem viel spontaneren Julian ein sehr nachdenklicher Mann. Nach dem Erlebnis im Unterhaus, das ihm tagelang nachging, obwohl es gar kein besonderer Tag gewesen war, kam er mit Guy in eine Unterhaltung über die englische Demokratie. Das war ja das Stichwort in Deutschland nach dem Krieg geworden: Demokratie! Guy, der Jurist, erklärte ihm, warum man bei diesem Wort in Bezug auf England vorsichtig sein müsse. Ja, die parlamentarische Demokratie sei eine englische Erfindung gewesen, zurückreichend ins frühe Mittelalter. Aber es ginge dabei vor allem um Repräsentation. Was Guy dann sagte, verstand er nicht in jedem Detail. Der entscheidende Punkt war aber, dass das britische Parlament keineswegs eine eindeutige demokratische Institution sei. In ihm kämen keineswegs die Stimmen der Bevölkerung proportional zum Ausdruck. Das liege am Wahlsystem. Die Abgeordneten würden nämlich ausschließlich direkt gewählt. Eine zweite Liste wie in Deutschland gebe es nicht. Das sei in gewisser
Weitere Kostenlose Bücher