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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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bekennen. Julian fand das nicht überraschend. Zur Zeit könne er Gielgud nicht auf der Bühne sehen, weil dem das Geld ausgegangen sei. Aber es gebe einen jungen Schauspieler, der schon seit einiger Zeit in aller Munde sei, Richard Burton. Der spiele gerade in einem alten Theater namens Old Vic den Hamlet.
    Welch ein Glück er hatte! Zwei Dinge waren es, die er in London unbedingt näher kennenlernen wollte: das Theater, vor allem Shakespeare-Aufführungen, und die Politik. Er wollte unbedingt eine Debatte im Unterhaus mitansehen dürfen. Gewissermaßen hatte beides ja miteinander zu tun, das war ihm durchaus klar, ohne dass er daraus irgendeine tiefere Einsicht über den englischen Charakter entwickelt hätte. Guy und Julian waren ganz begeistert von seiner Reaktion. Der eine würde ihm ein Ticket für eine Mittwochnachmittagssitzung im Parlament beschaffen, weil dann die Zeit für Debatten am interessantesten sei. Der andere würde ihm eine Karte für die nächste Matinee im Old Vic beschaffen. So kam es. Zuerst das Old Vic. Da passierte eine Panne, die ihm um ein Haar den Eintritt ins Theater verdorben hätte. Der Taxifahrer brachte ihn nicht ins »Old Vic«, sondern ins »Aldwych«. Englische Vokale sind schwer richtig auszusprechen! Zum Glück war noch Zeit genug, um zum Old Vic auf der anderen Seite der Themse zu kommen und den Beginn der Aufführung nicht zu verpassen.
    Was ihm sofort an dem jungen Mann, der den Hamlet spielte, auffiel, war die federnde, aggressive Art der Rede. Das war ganz unerwartet. Er stellte sich Hamlet anders vor. Der Hamlet von Laurence Olivier war anders gewesen. Zwar auch sehr männlich, aber doch von großer Melancholie. Das Melancholische dieses Hamlet war mehr eine Form von innerem Zorn und Verachtung gegenüber der Welt. Dieser Hamlet hätte um ein Haar den König früher getötet, als er sollte. Er hatte eine Art, mit Augen und Lippen zu sprechen, so als ob er die Zuschauer einzeln ansähe, um sie zu sich auf die Bühne zu ziehen. Diese Manier hatte einen entsprechenden Effekt. In der Pause zwischen den Vorhängen kreischten die vielen jungen Mädchen der höheren Schulklassen, die in der Drei-Uhr-Vorstellung saßen, hysterisch auf. Als am Ende des Stücks der junge Burton allein vor den Vorhang trat und sich verbeugte, sah er von seinem guten Platz aus, was für ein warmherziges, sinnliches Gesicht er hatte. Eigentlich passte es nicht zu jemandem, der zu einem jungen Mädchen sagte, sie solle sich wegscheren in ein Kloster. Eigentlich war er kein Hamlet. Das kam auch am Abend mit Julian und Guy zur Sprache. Julian hielt jetzt eine regelrechte Brandrede gegen das Spiel von Richard Burton. Der hätte ohnehin schon Hollywoodkontakte. Burton sei als Hamlet eine Fehlbesetzung. Entscheidend aber sei, dass dieser nicht in der Tradition von Gielgud, sondern von Olivier spiele. Viel zu physisch, zu wenig die poetische Sprache Shakespeares sprechend. So also verhielt es sich.
    Der Besuch im House of Commons war ein fast noch größeres Ereignis, für seine Seele und für seinen Verstand. Schon der Eintritt in das, wie man sagte, berühmteste Parlament der Welt. Er sah jetzt aus nächster Nähe, was er schon auf den vielen Ansichtskarten und Fotos gesehen hatte. Guy war mit ihm gegangen, um ihn zur Besuchergalerie zu führen. Das durfte man nicht ohne die Zustimmung eines befreundeten Parlamentsmitglieds. Normale Besucher hatten nur mit der Karte eines Abgeordneten Zutritt zur Besuchergalerie. Das bedeutete, dass Ausländer im allgemeinen nicht und Engländer nur in seltenen Fällen die Debatten verfolgen konnten. Es gab keine eigentliche Zuschauertribüne, sondern nur eine, wie es hieß, »members stranger’s gallery«. Er hatte einen ausgezeichneten Überblick. Es war der eigentliche, der große Eindruck vom englischen Parlament. All das wunderbare Gehölz und Gestein und Glas, all die Gemälde über den Kreuzgängen und Galerien und Korridoren, der ganze großartige Bau im neugotischen Stil, der in der weltbekannten Uhr mit ihrem weltbekannten Namen seinen Höhepunkt hatte – was war das alles gegen diesen relativ schmalen Raum, in dem sich auf jeweils nur vier oder fünf grünen Lederbänken die beiden britischen Parteien gegenüber saßen. Wie oft hatte er davon gehört. Der ernste Geschichtslehrer hatte sogar, als er vom Berliner Kongress und von Bismarck gesprochen hatte, ausführlich über den damaligen britischen Premierminister Disraeli geredet und das englische

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