Granger Ann - Varady - 02
Zigaretten verkaufte, weil das Geschäft nicht lief. Die wichtigsten seines
gegenwärtigen Bündels an Sorgen waren: dass der Verkehr
die Fundamente des sehr alten Hauses erschüttern könnte,
dass die Luftverschmutzung schlecht war für seine Nasennebenhöhlen, dass die neuen Parkvorschriften der Gemeinde die Leute daran hinderten, vor seinem Laden am Straßenrand zu halten und hereinzuspringen, um eben eine
Kleinigkeit zu kaufen.
Ganesh ist ein praktisch veranlagter Mensch, doch selbst
er wurde unter Onkel Haris ständigem Einfluss allmählich
nervös. Wie die Dinge standen, würde Ganesh bald mit den
Kräuterpillen anfangen. Der Besuch bei seinen Eltern an
diesem Tag hatte ihm vielleicht ein wenig Luft verschafft,
auch wenn der Tag bestimmt nicht erholsam verlaufen war.
Aber manchmal reicht es ja schon, wenn man wenigstens
die Probleme wechseln darf; und wie das Leben so ist –
manchmal ist das alles, was man sich erhoffen kann.
Die Anzeigetafeln dort, wo man zu den Bahnsteigen kam,
blinkten und informierten uns, dass die Verspätung, deren
Ursache ein Triebwagenausfall bei Wembley war, höchstwahrscheinlich noch eine weitere halbe Stunde dauern würde. Ich hatte nicht vor, noch dreißig Minuten auf der Bank
zu sitzen und langsam zu einem Eisblock zu mutieren. Ich
würde meinen Becher nehmen und mir einen wärmeren
Platz irgendwo anders suchen. Ich streckte die Hand nach
dem Kaffee aus, und in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich Gesellschaft hatte.
Der erste Eindruck war, dass sich jemand Düsteres, Bedrohliches neben mir herumdrückte, jemand mit einer
leicht säuerlichen Alkoholfahne. Da war er nun, nicht mehr
als eine Armlänge entfernt, den Blick auf meinen Kaffee fixiert. Offensichtlich fragte er sich, ob es mein Kaffee war,
oder ob irgendein Reisender den Becher hatte stehen lassen,
um zu seinem Zug zu sprinten. Er streckte zaghaft die Hand
nach dem Kaffee aus und fragte: »Is das Ihrer, junge Frau?«
Ich bejahte die Frage und schnappte mir den Becher besitzergreifend. Enttäuschung machte sich auf seinem Gesicht breit, das auch ohne diese Emotion so faltig war wie
das einer Bulldogge. Er war sicher fünfundsechzig, jedenfalls
schätzte ich ihn auf dieses Alter, und er hatte lange fettige
Haare und einen grau-schwarzen Stoppelbart am Kinn. Er
trug einen abgerissenen schmutzigen Army-Wintermantel,
der in merkwürdigem Kontrast zu den sauberen, neuen,
vorgewaschenen Jeans stand. Wahrscheinlich hatte er die
Jeans von einem Wohlfahrtsverein oder irgendeiner anderen Organisation, die sich um Obdachlose kümmert. Zu
schade, dass man ihm keine neuen Turnschuhe gegeben
hatte, denn die, die er trug, fielen bereits auseinander. Unter
der dicken Kleidung war er so spindeldürr, dass es aussah,
als könnte ihn die leichteste Brise von den Beinen wehen
und die Rolltreppe zu den Röhren hinunter, die er vermutlich gerade hochgekommen war.
Zum Teil, um ihn loszuwerden, und zum Teil, weil ich
häufig selbst nicht genug Geld für eine Tasse Kaffee gehabt
hatte, hatte ich Mitleid mit ihm. Ich fischte ein FünfzigPence-Stück aus der Tasche und sagte ihm, dass er sich einen eigenen Kaffee kaufen solle.
Seine Miene hellte sich auf. »Danke sehr, junge Frau!« Er
grabschte nach dem Geldstück und tippelte merkwürdig
leichtfüßig davon – zu meiner Überraschung tatsächlich zu
dem Imbissstand. Ich hatte eher erwartet, dass er meine
Spende aufsparen würde, bis er genug für eine Flasche zusammenhatte; doch es war ein kalter Tag.
Ich weiß, ich hätte ihn ignorieren sollen. Aber habe ich
mich jemals klug verhalten? Ich wusste schon sehr bald, dass
ich einen Fehler gemacht hatte, denn nachdem er seinen
Kaffee bekommen hatte, kehrte er zu mir zurück und setzte
sich neben mich.
»Ein braves Mädchen haben wir da«, sagte er. »Eine
Schande, dass es nicht mehr von Ihrer Sorte gibt.«
Das war eine echte Überraschung. Ich erinnere mich
nicht, wann ich zum letzten Mal so großzügig gelobt worden war – bestimmt nicht mehr, seit Dad und Großmutter
Varady gestorben sind. Meine Mutter hatte uns im Stich gelassen, als ich ein kleines Kind war, und ich wurde von meinem Vater und meiner ungarischen Großmutter Varady
aufgezogen. Die beiden waren die beste Familie, die man
sich nur denken kann, deswegen vermisste ich meine Mutter nicht. Die Dinge liefen, soweit es mich betrifft, erst aus
dem Ruder, als ich in die Schule kam. Es gab ein Missgeschick mit Fingerfarben, und die Lehrerin stand über
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