Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Wahrscheinlich wäre beides gleich schlimm für ihn gewesen. Sein Kumpel würde wohl nie wieder hier auftauchen. Die Bestien kamen immer in der Nacht. Dann konnte er sie hören, wie sie durch seinen Laden schlichen, Regale umstießen und mit ihren Krallen über die Stahltür kratzten, welche den Laden von der Wohnung trennte.
Der Alte wandte sich vom Fenster ab und zog die Gardine wieder zu, damit von außen niemand die Kerzen und Öllampen bemerken konnte.
Der alte Gaskocher stand auf einem Tisch, an dem er früher immer mit seiner geliebten Audrey die Mahlzeiten eingenommen hatte. Damals, in einem anderen Leben, zu einer anderen Zeit. In einer anderen Welt.
Der Geruch von Bohnensuppe erfüllte den Raum. Auf dem Tisch lagen alte Zeitschriften und Zeitungen mit den Schreckensmeldungen der letzten Menschentage verstreut. Dazwischen standen der Kocher, sowie einige Dosen mit Bohnen, Mais und Nudeln. In einer Ecke stapelten sich Teller und Blechschalen, die er nach jeder Mahlzeit im Badezimmer mit kaltem Wasser abspülte. Das Wasser holte er am frühen Morgen, wenn die Gefahr am geringsten war, aus einer großen Tonne hinter dem Haus. Es war schmutzig und stank vermodert. Aber es war alles, was er hatte. Die Wasserflaschen aus seinem ehemaligen Laden benutzte er zum Trinken.
Gedankenverloren rührte er die Suppe um und betrachtete dabei die riesigen Schlagzeilen der Zeitungen. Sie waren in düsterem Schwarz gehalten um das Grauen, das über die Welt gekommen war, zu verdeutlichen und die Verkaufszahlen zu erhöhen. Mit dem Tod der Welt ließ sich ein gutes Geschäft machen. Unter den Überschriften sah er Fotos von verheerten Städten in Europa, die rauchenden Vulkankratern glichen und ihn an groteske Zeichnungen von der Hölle erinnerten. Das Bild in der neusten Ausgabe der Zeitung zeigte die schwelenden Ruinen von Phoenix.
In den ersten Tagen der Katastrophe hatte der Alte die Zeitungen mit wütendem Fluchen in die Ecke geworfen. Die Fotos hatten einen tiefen, lodernden Zorn in ihm entfacht, aber auch eine kalte Angst, die seinen Körper zittern ließ. Er konnte einfach nicht verstehen, zu was Menschen fähig waren. Und er verstand nicht, was mit seinem Leben geschah. Doch mittlerweile war er so abgestumpft, dass er sich die Schlagzeilen und Bilder ansehen konnte, ohne etwas dabei zu empfinden.
Er wusste, dass da immer noch Angst in ihm war. Doch diese Angst war zu einem treuen und beständigen Begleiter geworden, so dass er ihre Anwesenheit gar nicht mehr bemerkte. Es war wie mit allem im Leben. Irgendwann wurde alles zu geistloser Routine und man gewöhnte sich daran. Selbst das Ende der Menschheit konnte von einem gemarterten und müden Verstand akzeptiert werden.
Er nahm den Topf vom Kocher, stellte ihn auf eine freie Stelle des Tisches und füllte zwei der Teller mit dampfender, duftender Bohnensuppe. Früher hatte er gerne eine Scheibe Brot dazu gegessen. Doch Brot gab es nicht mehr.
Vorsichtig ging er zu dem Bett in der Ecke des Zimmers. Als er sich näherte und die Teller auf einem kleinen, runden Tisch abstellte, rührte sich das Mädchen unter den Wolldecken und blinzelte ihn aus verschlafenen Augen an. Sie sah immer noch geschwächt aus, ihr Gesicht war blass und übermüdet.
»Komm, Kleines«, flüsterte Murphy und setzte sich mit einem Teller auf den Knien auf die Bettkante.
Das Mädchen richtete sich auf und blickte mit ausdruckslosen Augen auf den dampfenden Teller.
Der alte Mann fütterte sie wie ein kleines Kind. Es tat gut, sie endlich wieder essen zu sehen.
Kapitel 3
In den Hügeln
I
Daryll versuchte seine Gedanken abzulenken, während er die letzten Häuser der Stadt hinter sich ließ. Dort, wo die beiden Eichen wie ein Tor am Ende von Devon in den Himmel ragten, begann die Straße leicht anzusteigen. Gräser und Büsche säumten den Weg, dazwischen unnütz gewordene Strommasten und Grenzsteine. Auf einem verwitterten, schief stehenden Schild stand ›Auf baldiges Wiedersehen in Devon‹. Die Schrift war verblasst. Jemand hatte mit roter Sprühfarbe ›Killroy‹ über den Stadtnamen gesprüht und mit ›J.D.‹ unterzeichnet.
Daryll war, wenn er in die Hügel fuhr um seine Zeitungen zu verteilen, unzählige Male an diesem Schild vorbeigefahren, ohne ihm auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Natürlich war ihm eines Tages das alberne Graffiti aufgefallen, und er hatte darüber gelächelt. Vielleicht hatte er sich irgendwann einmal Gedanken darüber gemacht, wer ›J.D.‹ sein könnte. Er
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