Nie mehr ohne deine Küsse
1. KAPITEL
Goose schlug mit dem Kopf, tänzelte zur Seite und riss Lily mit einem Ruck aus ihren Tagträumen. In letzter Sekunde konnte sie das Pferd davon abhalten, unter einem gefährlich niedrig hängenden Ast hindurchzulaufen, und lenkte es zurück auf den Weg.
„Benimm dich gefälligst, du verwöhntes Pferd!“
Goose schnaubte empört.
Würde er sie jetzt abwerfen, wäre das ihre eigene Schuld. Schließlich wusste sie genau, wie gern Goose seine Reiter herausforderte. Doch die stille Idylle des Marshall-Anwesens zog Lily immer wieder in ihren Bann. Und der gleichmäßige Rhythmus von Gooses Schritten versetzte sie in einen fast tranceartigen Zustand. Kein Wunder, dass ihre Konzentration nachließ.
All die Leute, die viel Geld für exklusive Yogastunden und Gesprächstherapeuten ausgaben, sollten sich einmal eine halbe Stunde auf ein Pferd setzen und durch die Natur reiten. Dann bräuchten sie keine komischen Verrenkungen oder endlose Sitzungen über ihren Vaterkomplex mehr, um endlich Frieden zu finden. Das hier war besser als jede Therapie – und dazu noch umsonst.
Nein, es war mehr als umsonst. Die Marshalls zahlten ihr sogar etwas dafür, dass sie ausritt. Manchmal konnte Lily ihr Glück nicht fassen. Es war zu perfekt.
Goose fiel in einen leichten Trab, als der Wald sich lichtete und das Glitzern der Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche des Flusses durch das Blattwerk schimmerte. Während sie auf das Ufer zuritten, hob Lily ihr Gesicht der Sonne entgegen, um sich zu wärmen. Ohne zu zögern, watete Goose ein paar Schritte ins Wasser hinein. Nur ein scharfer Zug am Zügel hielt ihn davon ab, weiter ins Tiefe zu gehen.
„Nicht mit mir, Goose. Ich kenne deine Tricks. Diesmal werde ich nicht wieder den ganzen Tag mit nassen Stiefeln herumlaufen.“
Als hätte es sie verstanden, schnaubte das Tier widerwillig, um dann den Kopf zu senken und einige Schlucke zu trinken. Lily zog ihre Wasserflasche aus der Satteltasche und blieb einige Minuten still auf dem Pferderücken sitzen, um den Ausblick auf den Fluss und die dahinterliegenden Berge zu genießen, die von der Sonne angestrahlt wurden.
Das Marshall-Anwesen – Hill Chase – glich einem Stück Himmel auf Erden. Es lag nah genug an Washington, um den Familienmitgliedern mit ihren wichtigen Positionen in Politik und Regierung einen Zufluchtsort zu bieten. Gleichzeitig fühlte man sich meilenweit von der Stadt entfernt. Das Anwesen war Familiensitz und Unternehmen zugleich. Und Lily tat ihr Bestes, um sich in die Schar der unzähligen Angestellten zu integrieren. Tief sog sie die frische, saubere Luft ein und dachte daran, wie misstrauisch sie am Anfang gewesen war.
Ihre Sozialarbeiterin hatte ihr prophezeit, dass der Tag kommen würde, an dem sie ein neues Leben beginnen würde. Damals hatte Lily Jerry nicht geglaubt, doch nun …
Es war tatsächlich ein ganz neues Leben, das sie jetzt führte. Die Lily von früher schien immer mehr zu verblassen. Es fühlte sich an, als wäre sie jahrelang in einem Käfig gefangen gewesen und könnte sich erst jetzt wieder frei bewegen.
Sie schüttelte den Kopf, um sich von den Gedanken zu befreien. Am liebsten würde sie den ganzen Tag hier verbringen, doch es warteten noch zwei weitere Pferde darauf, bewegt zu werden – und eine ganze Liste zusätzlicher Aufgaben im Stall.
„Na los, Goose. Lass uns gehen“, forderte sie das Pferd auf.
„Jetzt schon? Du bist doch gerade erst gekommen.“
Beim Klang der Stimme, die wie aus dem Nichts zu kommen schien, verlor Lily vor Schreck fast das Gleichgewicht. Die Wasserflasche entglitt ihren Fingern und landete mit einem lauten Platschen im flachen Wasser neben den Hufen des Pferds. Verwirrt drehte sie sich im Sattel um. Nur wenige Meter vor ihnen schwamm ein Mann im Fluss. Lediglich sein Kopf und seine Schultern ragten aus dem Wasser.
„Entschuldigung. Ich wollte dir keine Angst einjagen.“ Das freche Lächeln strafte seine Worte Lügen.
„Ich habe mich bloß erschrocken.“
Das war auch berechtigt, denn die Reitwege waren Privatbesitz und niemand wusste, dass sie hier war. Als Goose die Stimme des Mannes hörte, wieherte er leise, als wollte er ihn begrüßen.
Ehe Lily sich versah, begann das Pferd auch schon, tiefer ins Wasser zu waten. Sosehr sie auch an den Zügeln zog, um es zu stoppen, es half nichts.
Glücklicherweise kam der Mann ihnen auf halbem Wege entgegen, sodass sie lediglich ihre Beine anziehen musste, um nicht nass zu werden.
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