Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
graue, namenlose Masse sein. Selbst die Menschen, die hier einmal existierten, verloren ihre Namen und versanken in diesem Meer der Stille.
Er fragte sich, ob er sich irgendwann nicht mehr an Marys Namen erinnern konnte. Vielleicht wusste er eines Tages nicht einmal mehr, wie er selbst hieß, wenn es niemanden mehr gab, der ihn bei seinem Namen rief. Er wachte eines Morgens auf, starrte in einen verschmutzten Spiegel und war so grau wie die Welt um ihn herum.
Der Gedanke trieb Tränen in Darylls Augen, die der Wind sofort trocknete. Plötzlich überfielen ihn Zweifel, weshalb er Devon überhaupt verlassen hatte. Dort gab es Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Und es gab Bücher. Aber es gab auch die Erinnerungen. An seine Eltern. An Mrs. Miller in seiner Schule. An sein Zimmer und die Poster von 2Pac an den Wänden. Und da waren auch die Erinnerungen an Mary Jane. Und die Kreaturen, die im Dunkeln der Stadt hausten, in Kellern, in leeren Hallen oder in der Kanalisation. Er hatte sie einmal gehört, als er über einem Kanaldeckel stand und in die Tiefe lauschte. Krallen auf Stein und ein feuchtes Keuchen.
Nein, seinen Erinnerungen wollte er sich nicht mehr stellen. Selbst wenn er die nächsten Jahre allein durch eine fahle, steinerne und namenlose Welt reisen musste, war dies besser als die Stadt, in der er gelebt hatte. Und solange er am Leben war, würde er auch die Namen der Dinge nicht vergessen. Eine Wiese war eine Wiese, und die Sonne wärmte ihn. Und Mary Jane würde in seinen Gedanken immer Mary Jane bleiben.
Daryll fuhr weiter in die Kälte der Hügel hinein. Seine Tränen waren längst getrocknet. Doch die Angst blieb.
III
Die Welt war ihm fremd geworden. Die Felsen, die Felder und die holprige Straße – das alles gehörte nicht hierher. Als hätte ein entarteter Künstler ein Gemälde mit Farben und Wut verunstaltet. Seine Gedanken waren vernebelt und ließen die Hügel um ihn herum verschwimmen. Er fuhr durch ein farbloses, stilles Meer, in dem es nur noch ihn und sein altes Fahrrad gab. Daryll war eine Insel inmitten eines grauen, endlosen Ozeans.
Keuchend begann er Steine zu zählen, die auf der Straße lagen und um die er herumfuhr. In den Rissen und Löchern des Asphalts wuchsen Grasbüschel, die ihm wie Stacheln erschienen. Er zählte auch diese, nur um sich nicht mehr mit dem Gedanken befassen zu müssen, was mit der Welt geschehen war. Er wollte nicht an Devon denken, nicht an seine Eltern und nicht an Mary Jane. Und erst recht nicht an die Kreaturen, die in den Nächten nicht selten bis zu den Fenstern der Schule geschlichen waren. Die Geräusche, die ihre Hufe im trockenen Gras machten, würde er für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen.
Die Straße machte eine Biegung und führte rechterhand an einem kleinen, dunklen Tannenhain vorbei. Früher hatte Daryll diese Stelle geliebt, denn wenn am Morgen die letzten Nebelschwaden zwischen den schlanken Stämmen der Bäume hingen, erinnerte ihn dies stets an Fetzen leichter Zuckerwatte, die ihm sein Vater oft auf dem Volksfest in der Stadt gekauft hatte.
An diesem Morgen war der Hain einfach nur schwarz. Schwarz und tot, wie der Rest der Welt.
Daryll fuhr langsamer und ließ seinen Blick zwischen den düsteren Tannen hindurch gleiten. Das Gefühl, von etwas beobachtet zu werden, ergriff ihn mit solcher Heftigkeit, dass er die Griffe der Lenkstange so fest umschloss, dass seine Knöchel an den Händen weiß hervortraten. Er wandte sich von dem Hain ab und starrte auf das, was hinter der Biegung kam. Ein eisiger Schauer durchlief seinen Körper und drängte ihn dazu, zurück nach Devon zu fahren und sich in dem dunklen Klassenzimmer zu verbarrikadieren. Stattdessen stieg Daryll vom Fahrrad ab und schob es mit langsamen Schritten auf die schmale Abzweigung zu, die von der Straße einen Hang hinunter in die Schatten mehrerer Birken führte. Dort unten in der Dunkelheit kauerte der kleine Gemischtwarenladen des alten Mr. Murphy wie ein riesiger, schlafender Hund.
Im Sommer hatte Daryll die Kühle unter dem Blätterdach stets als angenehm empfunden, nachdem er jeden Tag den weiten Weg aus der Stadt auf sich nahm, um die letzten Zeitungen hier oben in den Hügeln zu verteilen. Doch es war November und die Äste kahl. Sie bildeten ein schwarzes Dach über dem Haus, welches das graue Licht des Tages wie farblose Flecken auf den steinigen Parkplatz vor dem Laden warf. Von hier oben erschienen sie Daryll wie brackige Tümpel, die rund um die Hütte aus
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