Grauzone: Der 13. Fall für August Häberle (German Edition)
spürte ein
bedrohliches Kratzen im Hals.
Er zog
sich wortlos die Sauerstoffmaske übers Gesicht. Riedel tat es ihm nach. Jetzt
wurde es ernst.
Der
feine Rauch bildete bereits kleine Wölkchen und füllte das Cockpit bedrohlich
aus. Seit sie ihn erstmals bemerkt hatten, waren nur wenige Minuten vergangen – und
jetzt hatte sich der anfängliche Nebel bereits in wabernde Schwaden verwandelt.
Noch
während sie schweigend und zunehmend unsicherer ihre Instrumente prüften und
den Bordcomputer mit den Anflugdaten von Halifax fütterten, erhielten sie die
Freigabe für den Sinkflug auf 10 000 Fuß. Die Stimme im Kopfhörer wollte die
Anzahl der Passagiere und die Menge des Treibstoffs wissen. Für den Flughafen
in dem provinziellen Halifax waren dies wichtige Informationen zur Vorbereitung
einer Notlandung.
Kaum
hatte Frohberger die Daten übermittelt, fuhr sein Copilot die Luftbremsen aus – jene
Klappen, die das Tempo der Maschine verringerten und einen starken Sinkflug
einleiteten.
3
Wie oft schon hatte ihr Gehirn
sie mit diesen Bildern gequält? Gewiss mehr als zehntausend Mal in den
vergangenen 14 Jahren. Diese Szenen waren tief in ihre Seele gebrannt, obwohl
sie nichts davon selbst erlebt hatte. Es war nur die Fantasie, die ihr dieses
schreckliche Ereignis vorspielte, als habe ein imaginärer Drehbuchschreiber
daraus einen Horrorfilm gemacht. Doch Karin Waghäusl konnte sich nicht dagegen
wehren. Sie waren einfach da, diese dramatischen Szenen. Mitten in der Nacht,
beim Lesen eines Buches oder jetzt an diesem sonnigen Morgen auf der Autobahn.
Wie ein Film, der sich niemals stoppen ließ, so lief das Schreckliche
unablässig vor ihrem inneren Auge ab. Alle Versuche, es zu verdrängen, zu
löschen oder zu vergessen, halfen nichts. Es brandete immer wieder auf, um sie
stets mit noch größerer Gewalt wieder zu treffen. In solchen Momenten fühlte
sie sich wie gelähmt und der Realität entrückt. Dann konnte sie sich auf nichts
konzentrieren und keinen Gesprächen folgen. Sie mied menschliche Kontakte und
hätte sich am liebsten tief in ein Erdloch eingegraben. Manchmal schien es ihr,
als sei es mit dem Beginn der Wechseljahre noch viel schlimmer geworden. Ihre
Stimmungsschwankungen waren seit ihrem 50. Geburtstag, den sie im Dezember
gefeiert hatte, extrem heftig, und oftmals lagen nur wenige Stunden zwischen
kurzen Glücksmomenten und abgrundtiefer Traurigkeit.
Obwohl sie diese regelmäßigen Treffen auf einer Berghütte
sehr schätzte, wäre sie heute im Grunde ihres Herzens lieber daheimgeblieben.
Es hatte sie sehr viel Überwindung gekostet, frühmorgens schon loszufahren.
Doch dann hatte die Vernunft über die psychische Müdigkeit gesiegt, und sie war
in ihren silberfarbenen Golf gestiegen. Sie fühlte sich auch gegenüber den anderen
verpflichtet, von denen sich die meisten gewiss auf das Wiedersehen an diesen
Tagen der Sommersonnwende in den Bergen freuten. Außerdem gab es einiges zu
klären.
Seit sie sich dank des Internets gefunden hatten, waren
sie eine verschworene Gemeinschaft geworden. Sie telefonierten oft, schrieben
sich E-Mails und konnten ausgiebig über Gott und die Welt philosophieren – vor allem aber über Dinge reden, für die nicht alle
Menschen empfänglich waren. Viel zu sehr hatte sich die heutige Gesellschaft
aufs Materielle ausgerichtet, um noch die Geheimnisse des Lebens wahrzunehmen – geschweige denn zu akzeptieren, was man nicht sehen,
anfassen und berechnen konnte. Was nicht ins physikalisch-chemische Weltbild
passte, war schlichtweg nicht existent.
Und wer die Frage stellte, ob es Zufälle gab oder ob
eine große Macht und Kraft den Lauf der Dinge vorherbestimmte, wurde als
Querkopf oder Spinner abgetan. Karin Waghäusl allerdings mochte nicht mehr an
Zufälle glauben. Wieder war es das Gebetbuch, das sie vor sich sah. Dass gerade
das Rasthaus ›Allgäuer Tor‹ an ihr vorbei zog, nahm sie gar nicht zur Kenntnis.
Wie so oft schon, ließen die monotonen Motorengeräusche Erinnerungen an Flüge
wach werden – als sie noch gemeinsam um die Welt gejettet
waren, sie und Mario. Hätte sie nur schon damals gewusst, was an seiner Seele
nagte.
4
Damals,
vor 14 Jahren, waren einige Passagiere bereits durch das veränderte
Motorengeräusch verunsichert worden. Jetzt aber spürten sie zusätzlich, wie die
Maschine rasch an Höhe verlor und eine Steilkurve flog. Eine erste Unruhe
machte sich breit. Doch trotz angestrengter Blicke durch die Bullaugen
entdeckten sie in der
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