Grete Minde
der den großen, äußeren Burghof von dem kleinen, inneren trennte. Eine schmale Zugbrücke führte hinüber, und sie passierten sie. Drinnen war alles still: der Efeu wuchs hoch am Gemäuer auf, und in der Mitte stand ein alter Nußbaum, dessen weites Geäst den halben Hofraum überdachte. Und um den ausgehöhlten Stamm her war eine Bank. Grete wollte sich setzen; Valtin aber nahm ihre Hand und sagte: »Nicht hier, Grete; es ist zu stickig hier.« Und damit gingen sie weiter, bis an den Fuß eines steilen, in die Rasenbettung eingeschnittenen Treppchens, das oben auf einen breiten, von zwei Türmen flankierten Wallgang mündete. Zwischen diesen Türmen aber lief eine dicke, niedrige Feldsteinmauer, die nur um ein paar Fuß höher war als der Wallgang selbst. Und auf diese Mauer setzten sie sich und sahen in die Landschaft hinaus. Zu Füßen hatten sie den breiten Strom und die schmale Tanger, die spitzwinklig in den Strom einmündete, drüben aber, am andern Ufer, dehnten sich die Wiesen, und dahinter lag ein Schattenstrich, aus dessen Lichtungen hier und dort eine vom Abendrot übergoldete Kirchturmspitze hervorblickte. Der Himmel blau, die Luft frisch; Sommerfäden zogen, und in das Geläut der ersten heimwärtsziehenden Herden mischte sich von weit her das Anschlagen der Abendglocke.
»Ach, wie schön«, sagte Grete. »Jahr und Tag, daß ich nicht hier oben war. Und mir ist fast, als hätt ich es nie gesehen.«
»Das macht, daß wir einen so schönen Tag haben«, sagte Valtin.
»Nein, das macht, daß es hier so frisch und so weit ist, und zu Haus ist es so dumpf und so eng. Da bin ich wie gefangen und eingemauert, eingemauert wie die Stendalsche Nonne, von der mir Regine so oft erzählt hat.«
»Und du möchtest fort.«
»Lieber heut als morgen. Entsinnst du dich noch, Maifest vorm Jahr, als wir uns verirrt hatten und auf den Hirsch warteten, der uns aus dem Walde hinaustragen sollte!«
Valtin nickte.
»Sieh, da sprachst du von einem Tal, das tief in Bergen läg, und der Sturm ginge drüber hin, und wäre kein Krieg, und die Menschen liebten einander. Und ich weiß, daß ich das Tal in Wachen und in Träumen sah. Viele Wochen lang. Und ich sehnte mich danach und wollte hin. Aber heute will ich nur noch fort, nur noch weg aus unserm Haus. Wohin ist gleich. Es schnürt mir die Brust zusammen, und ich habe keinen Atem mehr.«
»Aber du hast doch die Regine, Gret. Und Gigas ist gut mit dir. Und dann sieh, Emrentz kann dich leiden. Ich weiß es; sie hat mir's selber gesagt, keine drei Tag erst, als ich mein Aussprach mit ihr hatt. Und dann, Grete, du weißt ja, dann hast du
mich.
«
Sie blickte sich scheu-verlegen um. Und als sie sah, daß sie von niemand belauscht wurden, trat sie rasch auf ihn zu, strich ihm das Haar aus der Stirn und sagte: »Ja,
dich
hab ich. Und ohne dich wär ich schon tot.«
Valtin zitterte vor Bewegung. Er erkannte wohl, wie tiefunglücklich sie sei, und sagte nur: »Was ist es, Grete? Sag es. Vielleicht, daß ich es mit dir tragen kann. Was drückt dich?«
»Das Leben.«
»Das Leben?« Und er sah sie vorwurfsvoll an.
»Nein, nein. Vergiß es. Nicht das Leben. Aber der Tag drückt mich; jeder; heute, morgen, und der folgende wieder. Endlos, endlos. Und ist kein Trost und keine Hülfe.«
»Der Tag«, wiederholte Valtin vor sich hin, und es war, als überleg er's und mustre die Reihe seiner eigenen Tage.
»Ja, der Tag«, fuhr Grete fort. »Und jede Stund ist lang wie das Jahr. Kaum daß ich den Morgenschlaf aus den Augen hab, so heißt es: ›Das Kind, das Kind.‹ Und nun spring ich auf und mache das Bad und mache den Brei. Und nun ist das Bad viel zu heiß und der Brei viel zu kalt. Und dann wieder: ›Das Kind und das Kind.‹ Und an mir sehen sie vorbei, als wär ich der Schatten an der Wand. Ach, ich weiß, es ist eine Sünd, aber ich muß mir's heruntersprechen von der Seel, und wahr ist es und bleibt es, ich haß es. Und so kommt Mittag, und wir sitzen an dem runden Tisch, und ich spreche das Gebet. Sprech es, und niemand hört darauf. Und wenn ich das letzte Wort gesprochen, so heißt es: ›Grete, sieh, ich glaub, es schreit.‹ Und dann bring ich es, und dann geht es reihum, und dann soll ich essen mit dem Kind im Arm. Und wenn es hübsch wär. Aber es ist so häßlich und sieht mich an, als erriet es all meine Gedanken. Ach, Valtin, das ist mein Tag und mein Nacht. Und so leb ich. In meines Vaters Haus ohne Heimat! Unter Bruder und Schwester, und ohne Liebe! Es tötet
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