Grimm - Roman
begann sie, und der drängende Unterton in ihrer Stimme fiel nur ihrer Tochter auf, »ich habe nicht viel Zeit. Sie müssen entschuldigen.« Sodann folgte eine Begründung in Form des aktuellen Tourneeplans und ein Hinweis auf den Flugplan und das vor der Schule wartende Taxi.
»Dann lassen Sie uns alles Weitere in meinem Zimmer besprechen«, schlug die Direktorin vor.
Vesper und ihre Mutter folgten der Frau in Grau ins Allerheiligste der Schule. Aus dem großen Fenster hatte man einen Ausblick auf das Mahnmal St. Nikolai, dem die Schule ihren Namen verdankte.
Auf dem Aktenschrank neben dem Schreibtisch stand eine Goethe-Büste, weiß und poliert. An den Wänden hingen Faksimiles von Goethe und Schiller. Eine traurige Grünpflanze reichte bis zur Decke und brachte ein wenig Leben in den Raum.
Die Direktorin nahm hinter dem Schreibtisch Platz, Vesper saß neben ihrer Mutter in einem der bequemen Stühle davor.
»Fräulein Gold«, begann Frau Dr. von Stein, öffnete eine Akte, die bereits auf dem Tisch gelegen hatte, und fasste kurz und knapp zusammen, was ohnehin jeder wusste. Die Verdachtsmomente, der Anruf ihres Tutors beim Arzt, die Beweislage und die Tatsachen. Sie zählte eine Reihe von Tadeln und Verweisen auf, klappte die Akte zu
und fixierte das Mädchen. »Warum, meine Teure, tun Sie so etwas?«
»Ich bin der Geist, der stets verneint«, antwortete Vesper und versuchte die scherzhafte Tour.
Margo Gold gab ihr, unmerklich für die Direktorin, einen Tritt gegen das Bein.
»Ach ja, ist das so?« Frau Dr. von Stein wirkte unbeeindruckt. Sie pochte mit dem Finger auf die Akte. »Sie hatten an Ihrer alten Schule einige Probleme, die wir hier zu vermeiden gehofft hatten.« Sie kramte eine Lesebrille aus einem Etui hervor und schob sie sich auf die Nase. »Sie haben einen Ihrer Lehrer verletzt.«
»Es war ein Unfall«, verteidigte Margo Gold ihre Tochter schnell.
»Es war Pech«, sagte Vesper. Im letzten Schuljahr hatte sie ihrem Sportlehrer einen Basketball ins Gesicht geschossen, weil er sie begrapscht hatte. Natürlich hatte sie es wie einen dummen Zufall aussehen lassen.
»Pech?«
»Haben Sie eine Ahnung, wie eifrig und gern manche Sportlehrer an dieser Schule den Mädchen Hilfestellung geben?«
Frau Dr. von Stein brauste entrüstet auf: »Fräulein Gold!«
»Schauen Sie sich doch einfach die Fehlzeiten in den Klassenbüchern an. Bei manchen Kollegen häufen sich die Krankheiten sehr verdächtig. So oft hat kein Mensch seine Tage.«
Die Stein wirkte sauer. »Kein Grund, derart ausfällig zu werden.«
»Tut mir leid.« Vesper zog ein Gesicht. »Wir sind nicht hier wegen dem, was auf meiner alten Schule gelaufen ist, oder?«
»Nein.«
Also kam Vesper der leidigen Frage zuvor: »Ich habe die Atteste gefälscht, um länger schlafen zu können und um einige der stinklangweiligen Grundkurse zu meiden.«
»Sie geben es also zu?«
»Warum sollte ich es leugnen?« Für wie dumm hielt sie die Stein? »Herr Müller hat schließlich bei unserem Arzt angerufen und festgestellt, dass ich nie dort gewesen bin.«
»Sie sind zumindest ehrlich.« Frau Dr. von Stein nickte wohlwollend. »Aber warum haben Sie das getan?«
»Sagte ich doch. Ich bin der Geist, der stets verneint.«
»Lassen Sie das.«
»Lass das«, sagte jetzt auch Margo Gold.
»Ist gut«, murrte Vesper.
»Wie bitte?«
»Entschuldigung, aber ich dachte, Sie wollten eine Antwort hören.«
Frau Dr. von Stein seufzte langgezogen. »Warum, bitte schön, haben Sie die Atteste gefälscht?«
»Ich wollte keine unentschuldigten Fehlzeiten haben.«
»Unterstehen Sie sich, mich zu veralbern.«
Meine Güte, dachte Vesper, sie hat wirklich veralbern gesagt.
»Nun?«
Sie wollte eine Antwort? Na, gut! »Was glauben Sie denn, was in manchen Kursen läuft? Man versäumt überhaupt
nichts, wenn man nicht immer hingeht. Im Gegenteil, man lernt die Sachen besser allein zu Hause.« Vesper konnte es nicht fassen. Die ewige Ignoranz der salbungsvoll wohlwollenden Pädagogen und dann noch diese heuchlerische Menschenfreundlichkeit. Pah!
Die Stein starrte erneut und unbeeindruckt in die Akten. »Ihre Leistungen, Fräulein Gold, erwecken nicht gerade den Anschein, als würden Sie das Verfehlte nacharbeiten.«
Okay, der Punkt ging an sie. Vesper verdrehte die Augen.
Ihre Mutter wurde ungeduldig, starrte auf die Uhr an der Wand.
»Was immer Sie auch vorzubringen gedenken«, resümierte die Direktorin, »es ist verboten, ärztliche Atteste zu fälschen. Es
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