Grimm - Roman
um Liebe und Verrat.
Etwas hockte auf der Schulter des Mannes, ein kleines Tier mit einem langen Schwanz.
Instinktiv blieb sie stehen und starrte in seine Richtung.
Sobald der Mann sie bemerkte, drehte er sich zur Seite und betrachtete auffällig interessiert die Auslage in dem Schaufenster, vor dem er stand. Buddelschiffe in allen Größen, Postkarten, Seehunde aus Plüsch, Matrosenmützen, weiß-rot gestreifte Leuchttürme aus Holz, winzige Anker in allen Formen, all der Krimskrams, der angeblich typisch für Hamburg sein sollte.
Vesper konnte nicht sagen, was genau sie beunruhigte. Aber etwas gefiel ihr an dem Kerl nicht.
Sie starrte ihn an, spürte den Regen im Gesicht.
Der Mann in dem Mantel sah verstohlen zu ihr rüber, senkte überaus schnell den Blick, als er bemerkte, dass sie ihn ansah, und verschwand augenblicklich um die Ecke.
Das Tier auf seiner Schulter war irgendwie unscharf gewesen. Ein Affe oder ein Waschbär - sie hatte es nicht wirklich erkennen können.
Drüben auf dem Wasser dröhnte das Horn eines Lastenschleppers.
Vesper schüttelte den Kopf.
Keine Ahnung, wer der Kerl gewesen war.
Sie betrachtete die Stelle, an der er gestanden hatte.
Nichts.
Warum sollte ihr schon jemand folgen?
Sie musste lächeln. Verrückte Idee, der Kerl hatte dort vermutlich nur die Zeit totgeschlagen, das war alles.
Sie machte ein paar Schritte, blieb dann erneut stehen und schaute zurück.
Nur Touristen vor dem Laden, keiner sonst.
Sie schüttelte den Kopf und beschloss, den Kerl in dem Mantel erst einmal zu vergessen.
Mädchen, weich vom Wege nicht.
Keine Ahnung, warum ihr das gerade jetzt einfiel. Ihre Mutter hatte ihr früher das Märchen von Rotkäppchen erzählt, und es war dieser Satz, an den Vesper sich noch immer erinnerte. Mädchen, weich vom Wege nicht. Die entscheidende Warnung, die Rotkäppchen missachtet hatte.
»Blödsinn«, sagte Vesper laut.
Nur ein gewöhnlicher Souvenirladen.
Kein Mann und auch kein Tier auf seiner Schulter. Vesper knotete den Schal enger. Ein unscharfes Tier, sie war sich sicher, dass da ein Tier auf seiner Schulter gehockt hatte. Ein unscharfes Tier, das sie nicht so recht hatte erkennen können.
Ein allerletztes Mal blickte sie zurück, dann ging sie mit schnellen Schritten voran. Schließlich wartete noch Arbeit auf sie.
Es war ein altes Hafengebäude aus rotem Backstein, vor dem sie stehen blieb, direkt oberhalb des Fischmarktes, mitten in St. Pauli. Neben dem spärlich überdachten Eingang mit dem Kassenhäuschen befanden sich zwei Schaukästen, in denen Plakate für die aktuellen Aufführungen hingen: Die Dreigroschenoper und Die toten Augen des Doktor Faustus . Eine Programmankündigung wies auf das neue Musiktheaterstück Rosenrot - was wirklich geschah! hin, das in zwei Wochen uraufgeführt werden würde.
Vesper kam jeden Tag hierher. Das kleine Theater am Fleet war ihr zweites Zuhause.
»Warum heißt es so?«, hatte Vesper damals gefragt, als sie sich um eine Anstellung beworben hatte.
»Als wir das Theater gegründet haben«, hatte ihr Gaetano, der Regieassistent, erklärt, »hatten wir eine Lagerhalle drüben am Herrengrabenfleet gemietet. Später sind wir umgezogen. Der Name ist geblieben.«
»Klingt schön.«
»Was kannst du?«, hatte Gaetano wissen wollen.
»Ich kann schneidern.« Etwas, was sie beizeiten von ihrer Großmutter gelernt hatte.
»Also jemand, der Ida bei den Kostümen hilft.« Ein breites Lächeln hatte sich auf dem Gesicht des glutäugigen Italieners ausgebreitet. »Klingt richtig gut. Du kannst gleich mit einem Kleid anfangen. Wie heißt du?«
Sie hatte es ihm gesagt.
»Vesper?«
»Was dagegen?!«
Er hatte gelacht. »Deine Eltern mögen also Ian Fleming.«
»Könnte man meinen.«
So fing es an.
Seit mehr als drei Monaten kam sie nun fast jeden Tag hierher und half dabei, die Kostüme zu gestalten. Sie zeichnete die Schnittmuster, nahm Maß an den Darstellern, wurde ein Teil der kleinen Gemeinschaft, die mehr vom Applaus als von den recht spärlichen Einnahmen lebte.
»Das ist nun mal Theater«, pflegte jeder hier zu sagen, »man findet vielleicht Ruhm, aber Reichtum muss man woanders suchen.«
Vesper lächelte still in sich hinein.
Hier zu sein war wie nach Hause zu kommen. Sie überquerte die Straße und trat ein.
Die wohlige Wärme, die leicht nach Tabak und Kaffee roch, umfing sie wie eine alte Freundin. Drüben vom Bühnenaufgang her hörte sie ein Stimmengewirr, leisen Gesang, laute
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