Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
zu weinen, da kam es in einer Nacht mit seinem weißen Totenhemdchen, in welchem es in den Sarg gelegt war, und mit dem Kränzchen auf dem Kopf, setzte sich zu ihren Füßen auf das Bett und sprach: »Ach Mutter, höre doch auf zu weinen, sonst kann ich in meinem Sarge nicht einschlafen; denn mein Totenhemdchen wird nicht trocken von deinen Tränen, die alle darauf fallen.« Da erschrak die Mutter, als sie das hörte, und weinte nicht mehr. Und in der andern Nacht kam das Kindchen wieder, hielt in der Hand ein Lichtchen und sagte: »Siehst du, nun ist mein Hemdchen bald trocken, und ich habe Ruhe in meinem Grab.« Da befahl die Mutter dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es still und geduldig, und das Kind kam nicht wieder, sondern schlief in seinem unterirdischen Bettchen.
Der Jude im Dorn
E s war einmal ein reicher Mann, der hatte einen Knecht, der diente ihm fleißig und redlich, war alle Morgen der erste aus dem Bett und abends der letzte hinein, und wenns eine saure Arbeit gab, wo keiner anpacken wollte, so stellte er sich immer zuerst daran. Dabei klagte er nicht, sondern war mit allem zufrieden und war immer lustig. Als sein Jahr herum war, gab ihm der Herr keinen Lohn und dachte »das ist das Gescheitste, so spare ich etwas und er geht mir nicht weg, sondern bleibt hübsch im Dienst.«
Der Knecht schwieg auch still, tat das zweite Jahr wie das erste seine Arbeit, und als er am Ende desselben abermals keinen Lohn bekam, ließ er sichs gefallen und blieb noch länger. Als auch das dritte Jahr herum war, bedachte sich der Herr, griff in die Tasche, holte aber nichts heraus. Da fing der Knecht endlich an und sprach: »Herr, ich habe Euch drei Jahre redlich gedient, seid so gut und gebt mir, was mir von Rechts wegen zukommt: ich wollte fort und mich gerne weiter in der Welt umsehen.« Da antwortete der Geizhals »ja, mein lieber Knecht, du hast mir unverdrossen gedient, dafür sollst du mildiglich belohnet werden«, griff abermals in die Tasche und zählte dem Knecht drei Heller einzeln auf, »da hast du für jedes Jahr einen Heller, das ist ein großer und reichlicher Lohn, wie du ihn bei wenigen Herren empfangen hättest.« Der gute Knecht, der vom Geld wenig verstand, strich sein Kapital ein und dachte »nun hast du vollauf in der Tasche, was willst du sorgen und dich mit schwerer Arbeit länger plagen.«
Da zog er fort, bergauf, bergab, sang und sprang nach Herzenslust. Nun trug es sich zu, als er an ein Buschwerk vorüberkam, dass ein kleines Männchen hervortrat und ihn anrief: »wo hinaus, Bruder Lustig? Ich sehe, du trägst nicht schwer an deinen Sorgen.«
»Was soll ich traurig sein«, antwortete der Knecht, »ich habe vollauf, der Lohn von drei Jahren klingelt in meiner Tasche.«
»Wieviel ist denn deines Schatzes?«, fragte ihn das Männchen. »Wieviel? Drei bare Heller, richtig gezählt.«
»Höre«, sagte der Zwerg, »ich bin ein armer bedürftiger Mann, schenke mir deine drei Heller: ich kann nichts mehr arbeiten, du aber bist jung und kannst dir dein Brot leicht verdienen.« Und weil der Knecht ein gutes Herz hatte und Mitleid mit dem Männchen fühlte, so reichte er ihm seine drei Heller und sprach: »in Gottes Namen, es wird mir doch nicht fehlen.« Da sprach das Männchen »weil ich dein gutes Herz sehe, so gewähre ich dir drei Wünsche, für jeden Heller einen, die sollen dir in Erfüllung gehen.«
»Aha«, sprach der Knecht, »du bist einer, der blau pfeifen kann. Wohlan, wenns doch sein soll, so wünsche ich mir erstlich ein Vogelrohr, das alles trifft, wonach ich ziele; zweitens eine Fiedel, wenn ich darauf streiche, so muss alles tanzen, was den Klang hört; und drittens, wenn ich an jemand eine Bitte tue, so darf er sie nicht abschlagen.«
»Das sollst du alles haben«, sprach das Männchen, griff in den Busch, und, denk einer, da lag schon Fiedel und Vogelrohr in Bereitschaft, als wenn sie bestellt wären. Er gab sie dem Knecht und sprach: »was du dir immer erbitten wirst, kein Mensch auf der Welt soll es dir abschlagen.«
»Herz, was begehrst du nun?«, sprach der Knecht zu sich selber und zog lustig weiter. Bald darauf begegnete er einem Juden mit einem langen Ziegenbart, der stand und horchte auf den Gesang eines Vogels, der hoch oben in der Spitze eines Baumes saß. »Gottes Wunder!«, rief er aus. »so ein kleines Tier hat so eine grausam mächtige Stimme! Wenns doch mein wäre! Wer ihm doch Salz auf den Schwanz streuen
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