Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
verstehen.
Eine entschiedene Mundart haben wir gern beibehalten. Hätte es überall geschehen können, so würde die Erzählung ohne Zweifel gewonnen haben. Es ist hier ein Fall, wo die erlangte Bildung, Feinheit, und Kunst der Sprache zu Schanden wird und man fühlt, daß eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem übrigen sein mag, heller und durchsichtiger, aber auch schmackloser geworden, und nicht mehr so fest an den Kern sich schließe. Schade, daß die niederhessische Mundart in der Nähe von Cassel, als in den Gränzpunkten des alten sächsischen und fränkischen Hessengaues, eine unbestimmte und nicht reinlich aufzufassende Mischung von niedersächsischem und hochdeutschem ist.
In diesem Sinne gibt es unseres Wissens sonst keine Sammlung von Märchen in Deutschland. Entweder waren es nur ein paar zufällig erhaltene, die man mitteilte, oder man betrachtete sie als bloßen, rohen Stoff, um größere Erzählungen daraus zu bilden. Gegen solche Bearbeitungen erklären wir uns geradezu. Zwar ist es unbezweifelt, daß in allem lebendigen Gefühl für eine Dichtung ein poetisches Bilden und Fortbilden liegt, ohne welches auch eine Überlieferung etwas Unfruchtbares und Abgestorbenes wäre, ja eben dies ist mit Ursache, warum jede Gegend nach ihrer Eigentümlichkeit, jeder Mund anders erzählt. Aber es ist doch ein großer Unterschied, zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen ähnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Entfalten und einer absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch wohl leimenden Umänderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen können. Die einzige Richtschnur, wäre dann die von seiner Bildung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besonderm Gelüsten vorzudringen nicht erlaubt. Räumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen Wert ein, das heißt: gibt man zu, daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst, daß dieser Wert durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn, wo lebt sie wirklich, als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der Tat kühlt und erfrischt, oder wärmt und stärkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit Unschuld, und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreis, welchem sie angehören, und wo sie ohne Überdruß, immer wieder begehrt werden. Es kann sein, und dies ist der beste Fall, daß man Feinheit, Geist, besonders Witz, der die Lächerlichkeit der Zeit mit hineinzieht; ein zartes Ausmahlen des Gefühls, wie es einer von der Poesie aller Völker genährten Bildung nicht allzu schwer fällt, dafür gibt; aber diese Gabe hat doch mehr Schimmer als Nutzen: sie denkt an das einmalige Anhören oder Lesen, an das sich unsere Zeit gewöhnt hat, und sammelt und spitzt dafür die Reize. Doch in der Wiederholung ermüdet uns der Witz, und das Dauernde ist etwas Ruhiges, Stilles und Reines. Die geübte Hand solcher Bearbeitungen gleicht doch jener unglücklich begabten, die alles, was sie anrührte, auch die Speisen, in Gold verwandelte, und kann uns mitten im Reichtum nicht sättigen und tränken. Gar, wo aus bloßer Einbildungskraft die Mythologie mit ihren Bildern soll angeschafft werden, wie kahl, innerlich leer, und gestaltlos sieht dann trotz den besten und stärksten Worten alles aus! Übrigens ist dies nur gegen sogenannte Bearbeitungen gesagt, welche die Märchen bloß zu verschönern und poetischer auszustatten vorhaben, nicht gegen ein freies Auffassen derselben zu eigenen, ganz der Zeit angehörenden Dichtungen; denn wer hätte Lust, der Poesie Gränzen abzustecken?
Wir übergeben dies Buch wohlwollenden Händen, dabei denken wir an die segnende Kraft, die in diesen liegt und wünschen, daß denen, welche solche Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen nicht gönnen, es gänzlich verborgen bleiben möge.
Cassel am 3. Julius 1819.
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1 In die sich Kinder selbst so gern greifen, (Fischarts Gargantua 129 b 131 b) und die sie sich holen möchten.
2 Merkwürdig ist, daß es bei den Galliern nicht erlaubt war, die überlieferten Gesänge aufzuschreiben, während man sich der Schrift in allen übrigen Angelegenheiten bediente. Cäsar, der dies anmerkt (de B. G. VI. 4.) glaubt, daß man damit
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