Abraham Lincoln - Vampirjäger
EINFÜHRUNG
Von den Dingen, die ich gesehen habe, kann ich nicht sprechen, noch kann ich Trost erlangen wollen angesichts des Schmerzes, der mich quält. Wenn ich es täte, würde diese Nation in einen noch tieferen Wahnsinn verfallen oder glauben, ihr Präsident sei wahnsinnig geworden. Die Wahrheit, fürchte ich, kann nur als Tinte auf Papier existieren. Verborgen und vergessen, bis ein jeder, der hier Erwähnung findet, zu Staub geworden ist.
Tagebucheintrag von Abraham Lincoln
am 3. Dezember 1863
I
Ich blutete noch immer … meine Hände zitterten. Soviel ich wusste, war er noch immer in der Nähe und beobachtete mich. Irgendwo, wie jenseits einer tiefen Kluft aus Raum, lief ein Fernseher. Ein Mann sprach von Einheit.
Nichts davon war von Bedeutung.
Die Bücher, die vor mir ausgebreitet lagen, waren in diesem Moment das Einzige, was zählte. Zehn in Leder gebundene Bücher unterschiedlicher Größe – jedes in einem anderen Schwarz- oder Grauton. Manche bloß alt und abgenutzt. Andere wiederum wurden kaum noch von den rissigen Einbänden zusammengehalten, und ihre Seiten wirkten, als würden sie in dem Moment zu Staub zerfallen, da sie von etwas anderem als einem Atemhauch berührt und umgeblättert würden. Neben all den Büchern lag ein Bündel Briefe, das fest von einem roten Gummiband zusammengehalten wurde. Einige hatten verkohlte Ränder. Andere waren so vergilbt wie die Zigarettenfilter, die achtlos auf dem Kellerboden verstreut lagen. Das Einzige, was inmitten all dieser abgegriffenen Gegenstände herausstach, war ein einzelnes, strahlend weißes Blatt Papier. Auf der einen Seite waren die Namen von elf Personen aufgelistet, die ich nicht kannte. Keine Telefonnummern. Keine E-Mail-Adressen. Nur die Postadressen von neun Männern und zwei Frauen sowie eine Nachricht, hingekritzelt an den unteren Rand der Seite:
Ich erwarte dich.
Von irgendwoher drang immer noch die Stimme dieses Mannes zu mir: Kolonisten … Hoffnung … Selma …
Ich hielt das kleinste und sicher auch das zerfallenste der zehn Bücher in Händen. Seine ausgeblichenen braunen Buchdeckel waren verkratzt, fleckig und abgegriffen. Das Messingschloss, das einmal seine Geheimnisse bewahrt hatte, war längst aufgebrochen. Innen war jeder Quadratzentimeter der Seiten mit Tinte beschrieben – manche Buchstaben noch so dunkel wie am Tag, an dem sie getrocknet waren; andere so verblasst, dass ich sie kaum noch entziffern konnte. Insgesamt hafteten hundertachtzehn von Hand beschriebene Doppelseiten am Buchrücken. Sie waren voll von privaten Sehnsüchten, Theorien, Strategien, unbeholfene Zeichnungen von Männern mit seltsamen Gesichtern, historischen Gerüchten und detaillierten Listen. Als ich das Geschriebene las, fiel mir auf, dass sich die Handschrift des Autors nach und nach veränderte und aus der unsicheren Kritzelei eines Kindes schließlich die kompakte Handschrift eines jungen Mannes wurde.
Ich las die letzte Seite zu Ende, vergewisserte mich mit einem verstohlenen Blick über die Schulter, dass ich noch immer allein war, und blätterte wieder zur ersten Seite zurück. Ich musste es noch einmal lesen. Jetzt gleich, bevor die Vernunft die gewagten Vorstellungen, die in meinem Kopf herumzuspuken begannen, vertreiben würde.
Das kleine Buch begann mit den folgenden sieben, ebenso absurden wie faszinierenden Worten:
Dies ist das Tagebuch von Abraham Lincoln.
_
Rhinebeck war eine dieser Provinzstädte, die die Zeit vergessen zu haben schien. Eine Stadt, in der kleine Familienbetriebe und vertraute Gesichter die Straßen säumten und in der das älteste Gasthaus von ganz Amerika noch immer mit seinen Annehmlichkeiten und günstigen Preisen lockte. (Einst soll dort, das wurde die ganze Kleinstadt nicht müde, stolz zu betonen, sogar General Washington sein perückenloses Haupt gebettet haben.) Eine Stadt, in der sich die Bewohner gegenseitig selbstgemachte Quilts schenkten, ihre Häuser mit Holzöfen beheizten und in der ich schon mehr als einmal einen frisch gebackenen Apfelkuchen auf dem Fensterbrett hatte auskühlen sehen. Kurz gesagt, ein Ort, der sich aufgrund seiner Idylle in einer Schneekugel ausnehmend gut gemacht hätte.
Wie so vieles in Rhinebeck war auch der Ramschladen in der East Market Street das lebende Relikt einer aussterbenden Vergangenheit. Schon seit 1946 kauften die Einwohner dort alles, was sie zum Leben benötigten, von der Eieruhr bis zum Saumband und vom Bleistift bis zum Weihnachtsschmuck. Was wir nicht
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