Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
habe verhüten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erlernen, und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus hält dem Theuth (im Phädrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachtheil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedächtnisses haben würde. – Über die ursprüngliche Sitte der Deutschen und Franken bei der Überlieferung ihrer Lieder, vergl. Altd. Wälder I. 232-34 und Anm. 4.
3 Unser Bruder, Ludwig Grimm, hat eine recht ähnliche und natürliche Zeichnung von ihr radiert, sie wird einmal in der Sammlung seiner Blätter, wovon bei Artaria ein Heft erschienen ist, zu haben sein. Einen zwar verkleinerten doch wohlgeratenen Nachstich davon liefert das Titelkupfer vor dem zweiten Band. Durch den Krieg geriet die gute Frau in Elend und Unglück, das wohltätige Menschen lindern aber nicht heben konnten. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die höchste Not in ihre schon arme Hütte. Sie wurde siech und starb am 17. Nov. 1816.
Vorrede zum zweiten Band
M it dieser weitern Sammlung von Haus-Märchen ist es der treibenden, starken Zeit unerachtet schneller und leichter gegangen, als mit der ersten. Teils hat sie sich selbst Freunde verschafft, welche sie unterstützten, teils, wer es früher gern getan hätte, sah jetzt erst bestimmt, was und wie es gemeint wäre; endlich hat uns auch das Glück begünstigt, das Zufall scheint, aber gewöhnlich beharrlichen und fleißigen Sammlern beisteht. Ist man erst gewohnt auf dergleichen zu achten, so begegnet es doch häufiger, als man sonst glaubt, ja das ist überhaupt mit Sitten, Eigentümlichkeiten, Sprüchen und Scherzen des Volkes der Fall.
Die schönen plattdeutschen Märchen aus dem Fürstentum Paderborn und Münster verdanken wir besonderer Güte und Freundschaft; das Zutrauliche der Mundart ist ihnen bei der innern Vollständigkeit besonders günstig. Dort, in altberühmten Gegenden deutscher Freiheit, haben sich an manchen Orten die Sagen als eine fast regelmäßige Vergnügung der Sonntage erhalten: auf den Bergen erzählten die Hirten jene, am Harz auch bekannte und vielleicht jedem großen Gebirge eigene, vom Kaiser Rotbart, der mit seinen Schätzen darin wohne; dann von den Hühnen, wie sie ihre Hämmer stundenweit von den Gipfeln sich zugeworfen; manches, was wir an einem andern Orte mitzuteilen denken. Das Land ist noch reich an ererbten Gebräuchen und Liedern.
Einer jener guten Zufälle aber war die Bekanntschaft mit einer Bäuerin aus dem nah bei Cassel gelegenen Dorfe Zwehrn, durch welche wir einen ansehnlichen Teil der hier mitgeteilten, darum ächt hessischen, Märchen, so wie mancherlei Nachträge zum erster Band erhalten haben. Diese Frau, noch rüstig und nicht viel über fünfzig Jahr alt, heißt Viehmännin, hat ein festes und angenehmes Gesicht, blickt hell und scharf aus den Augen, und ist wahrscheinlich in ihrer Jugend schön gewesen. Sie bewahrt diese alten Sagen fest in dem Gedächtnis, welche Gabe, wie sie sagt, nicht jedem verliehen sei und mancher gar nichts behalten könne; dabei erzählt sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man will, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Übung nachschreiben kann. Manches ist auf diese Weise wörtlich beibehalten, und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen sein. Wer an leichte Verfälschung der Überlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung, und daher an Unmöglichkeit langer Dauer, als Regel glaubt, der müßte hören, wie genau sie immer bei derselben Erzählung bleibt und auf ihre Richtigkeit eifrig ist; niemals ändert sie bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab, und bessert ein Versehen, sobald sie es bemerkt, mitten in der Rede gleich selber. Die Anhänglichkeit an das Überlieferte ist bei Menschen, die in gleicher Lebensart unabänderlich fortfahren, stärker, als wir, zur Veränderung geneigt, begreifen. Eben darum hat es auch, so vielfach erprobt, eine gewisse eindringliche Nähe und innere Tüchtigkeit, zu der anderes nicht so leicht gelangt, das äußerlich viel glänzender erscheinen kann. Der epische Grund der Volksdichtung gleicht dem durch die ganze Natur in mannichfachen Abstufungen verbreiteten Grün, das sättigt und sänftigt ohne je zu ermüden.
Der innere gehaltige Wert dieser Märchen ist in der Tat hoch zu schätzen, sie geben auf unsere uralte Heldendichtung ein neues und
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